Müdigkeit am Steuer

Tödlicher Schlafmangel

Es gibt mehr tödliche Autounfälle durch Übermüdung als durch Alkohol. Zuverlässige Messverfahren sollen helfen, die Rate zu senken. Doch das ist nicht leicht.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Müde am Steuer? Das kann gefährlich werden.

Müde am Steuer? Das kann gefährlich werden.

© stockasso/fotolia.com

KÖLN. Wer zu viel Alkohol getrunken hat, sollte nicht Auto fahren. Das dürfte allen klar sein, selbst denen, die sich nicht daran halten.

Da die Polizei öfter den Alkoholspiegel kontrolliert, trauen sich nur recht Wenige angetrunken hinters Steuer. Trotzdem ist noch bei jedem siebten tödlichen Unfall Alkohol im Spiel.

Es gibt keine Methode, die Müdigkeit zu messen

Dabei sind alkoholisierte Fahrer längst nicht das größte Risiko auf den Straßen: Die Übermüdung fordert weit mehr Todesopfer.

Nach einer ADAC-Analyse aus dem Jahr 2012 wird jeder vierte tödliche PKW-Unfall und jedes sechste schwere LKW-Unglück in Deutschland durch eingeschlafene Fahrer verursacht.

Man mag sich daher fragen, weshalb die Polizei nur den Alkoholspiegel, nicht aber die Müdigkeit der Fahrer kontrolliert.

Die Antwort ist einfach: Sie kann es nicht. Es gibt weder eine zuverlässige und anerkannte Methode, die Müdigkeit in praktikabler Weise ambulant zu bestimmen, noch sind Grenzwerte festgelegt, ab denen von einer Fahrunfähigkeit auszugehen ist.

Nachts und nachmittags passieren die meisten tödlichen Unfälle

Schlafmediziner wollen diesen Umstand nicht mehr länger hinnehmen. "Wenn man sieht, was die Gesellschaft gegen Alkohol und was sie gegen Übermüdung am Steuer tut, dann gibt es hier eine große Diskrepanz", sagte Dr. Hans-Günther Weeß vom Schlafzentrum Klingenmünster auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) in Köln.

Weeß schätzt, dass basierend auf den wissenschaftlichen Daten mehrerer europäischer Untersuchungen Übermüdung zwei- bis dreifach häufiger der Auslöser tödlicher Unfälle ist als Alkohol.

Besonders kritisch sind danach offenbar die Zeiten zwischen vier und sieben Uhr morgens, wenn der Chronorhythmus auf Tiefschlaf steht sowie zwischen 13 und 16 Uhr, während des Leistungstiefs am Nachmittag. "Dann finden die meisten tödlichen Unfälle statt."

17 Stunden Wachsein gleichen 0,5 Promille

Der Diplom-Psychologe erinnerte daran, dass 17 Stunden Wachheit das Reaktionsvermögen ebenso mindern wie 0,5 Promille Blutalkohol, und 22 Stunden so stark wie 1,0 Promille.

Er nannte mehrere Ebenen, auf denen es Handlungsbedarf gebe. Zum einen müsse die Polizei besser trainiert werden, schläfrigkeitsbedingte Unfälle zu erkennen. Bislang werde Übermüdung noch viel zu selten als Ursache aufgespürt.

Zum anderen sei ein Bewusstseinswandel nötig: Auto- und LKW-Fahrern müsse klar werden, dass Müdigkeit am Steuer kein Kavaliersdelikt ist.

Schließlich sollten auch bessere Messverfahren entwickelt werden, um Übermüdung zu erkennen - sowohl für die Polizei als auch für Sicherheitssysteme im Fahrzeug.

Gerade hier hapert es allerdings noch gewaltig, machte Christina Platho von Human-Factors-Consult aus Berlin anhand einer Untersuchung zur Erfassung der Fahrermüdigkeit deutlich.

Messverfahren von zwölf Experten beurteilt

Für die Analyse, in Auftrag gegeben von der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt), wurden zwölf Experten aus Industrie- und Hochschulforschung befragt.

Sie sollten die validesten Verfahren zur Erfassung der Fahrermüdigkeit beurteilen und erläutern, wo sie sich am besten verwenden lassen - also etwa für Müdigkeitswarnsysteme oder Polizeikontrollen.

Entscheidende Kriterien dafür waren, dass sich die Messergebnisse nicht willentlich beeinflussen lassen, also keine Wachheit vorgetäuscht werden kann, und dass sie von den Betroffenen akzeptiert werden.

Messung der Fahrperformance

Zu den validesten Müdigkeitsmessverfahren gehören nach Ansicht der Experten die Messung der Fahrperformanz (Lenkverhalten und Spurhaltung) und des Lidschlussverhaltens, das videobasierte Expertenrating, das EEG und der pupillografische Schläfrigkeitstest.

All diese Verfahren haben zum Teil aber große Nachteile, sodass eines alleine kaum genügt, um eine Übermüdung zweifelsfrei nachzuweisen.

Die meisten sind derzeit auch nicht bei Verkehrskontrollen praktikabel oder für Sicherheitssysteme in Fahrzeugen geeignet, erläuterte Platho.

Deutlich wird dies etwa beim EEG: Alphaspindeln sind zwar ein sehr guter Indikator für Übermüdung und Sekundenschlaf, derzeit wäre aber kaum jemand bereit, sich beim Fahren eine EEG-Kappe überzuziehen.

Hier müssten erst kontaktfreie Methoden zur Ableitung im Fahrzeug entwickelt werden.

Fehlsignale bei Brillenträgern

Wesentlich praktikabler ist das Lidschlussverfahren: Dabei werden Häufigkeit, Dauer und Geschwindigkeit des Lidschlusses per Videokamera oder Elektrookulogramm bestimmt.

Für die meisten Experten war dies die beste Methode zur Müdigkeitsmessung, vor allem das kontaktfreie Verfahren per Kamera wäre für die Akzeptanz von Vorteil, wenngleich sich der eine oder andere Fahrer ungern von der Kamera beobachten lässt.

Solche Systeme werden inzwischen zwar schon zur Müdigkeitswarnung in Kfz angeboten, haben aber ihre Tücken: Bei schwierigen Lichtverhältnissen und reflektierenden Brillen liefern sie oft Fehlsignale.

Manche Autos messen selbstständig

Seit Jahren werden auch schon Fahrperformance-Daten zur Müdigkeitswarnung in der Fahrzeugoberklasse angeboten. So führen Fahrer unbemerkt Mikrokorrekturen beim Lenken aus.

Diese werden bei Müdigkeit seltener, stattdessen gibt es dann größere Korrekturbewegung. Solche Änderungen lassen sich gut erfassen und sind sehr valide, allerdings auch störanfällig.

Die Warnung funktioniert am besten bei langen, geraden Strecken auf der Autobahn, aber überhaupt nicht im Stadtverkehr und auf kurvenreichen Landstraßen, erläuterte Platho.

Zudem sind die Messungen abhängig vom Fahrzeugtyp, was die Interpretation bei Polizeikontrollen schwierig machen dürfte.

Video-Verfahren erst nach Unfall einsetzbar

Sehr gut funktioniert offenbar auch das videobasierte Expertenrating. Dabei analysieren Experten die Mimik, die Gesichts-, Augen- und Lidbewegungen, um eine Übermüdung festzustellen.

Allerdings könnte ein solches Verfahren nur im Nachhinein, etwa nach einem Unfall, feststellen, ob ein Fahrer übermüdet war. Zur Warnung taugt es natürlich nicht.

Sehr kontrovers diskutiert wurde von den zwölf Experten der Studie der pupillografische Schläfrigkeitstest. Bei dem Verfahren werden im Dunkeln Pupillenoszillationen erfasst, wie sie bei Müdigkeit durch die reduzierte ZNS-Aktivität auftreten.

Das Verfahren ist im Labor gut etabliert und könnte bei Verkehrskontrollen eingesetzt werden.

Dabei stellen sich jedoch zwei Probleme: Zum einen besteht die Gefahr, dass der Fahrer beim Test erst richtig müde wird, wenn er plötzlich zehn Minuten still in absoluter Dunkelheit verharren soll, zum anderen könnte das Adrenalin bei einem solchen Test die tatsächliche Übermüdung maskieren.

Es gibt noch keinen Grenzwert

Das Fazit von Platho: Einige der Verfahren ließen sich tatsächlich zu Müdigkeitswarnung optimieren, allerdings legt keines einen Grenzwert nahe, an dem jemand als fahruntauglich zu beurteilen ist, und keine der Methoden wäre im Alltag für Verkehrskontrollen geeignet.

Möglicherweise wird es solche direkten Messverfahren zu Kontrollzwecken auch nie geben.

Die Polizei könnte bei Kontrollen aber immerhin die Daten der Warnsysteme auswerten, wenn diese eines Tages wie Fahrtenschreiber für LKW Pflicht werden sollten.

Zeigen dann etwa die Aufzeichnungen der vergangenen Stunde starke Auffälligkeiten, die auf eine Übermüdung deuten, könnte die Polizei von einer Fahrunfähigkeit ausgehen.

Falsch verstandene Sicherheit

Solche Kontrollen könnten schnell nötig werden, wenn sich Müdigkeitswarnsysteme etablieren.

Denn wie die BASt-Studie ebenfalls ergeben hat, setzen Fahrer in Oberklassewagen, die über solche Systeme verfügen, die Fahrt in der Regel trotz detektierter Müdigkeit fort, fühlen sich dabei aber sicherer.

Die Warnverfahren könnten also dazu führen, dass nicht weniger, sondern noch mehr übermüdete Fahrer die Straßen verunsichern, weil sie fälschlicherweise glauben, die Systeme passen ja auf sie auf.

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