Fallstudien

Wenn Gelähmte (fast) wieder gehen

Mit der Rückenmark-Stimulation gelingt es einigen Querschnittgelähmten, wieder halbwegs sicher zu stehen und unter Assistenz einige Schritte zu gehen. So richtig alltagstauglich ist das Verfahren aber noch nicht.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Nach einem intensiven Training unter der Stimulation gelang es Patienten, mit einem Gehrahmen wieder einige Schritte selbstständig zu gehen.

Nach einem intensiven Training unter der Stimulation gelang es Patienten, mit einem Gehrahmen wieder einige Schritte selbstständig zu gehen.

© WavebreakmediaMicro / stock.adobe.com (Symbolbild)

Das Wichtigste in Kürze

Frage: Können gelähmte Patienten per epiduraler Stimulation wieder das Gehen lernen?

Antwort: Manche Patienten schaffen es, mit einer Gehhilfe wieder einige Schritte zu gehen.

Bedeutung: Die epidurale Rückenmarkstimulation ist dann eine Option, wenn noch Nervenfasern die Läsion durchdringen.

Einschränkung: Bisher erst bei wenigen Patienten geprüft.

NEU-ISENBURG. Noch klappt eher das Stehen als das Gehen: Immerhin schaffen es einige Querschnittgelähmte, selbst Jahre nach der Schädigung dank epiduraler Stimulation wieder selbstständig zu sitzen und sich auf den Beinen zu halten.

Einige können sogar mühsam einige Schritte gehen, sofern sie sich an einer Gehhilfe festhalten oder von einem Therapeuten geführt werden. Ein großes Problem dabei ist nach wie vor die Balance – hier benötigen alle Betroffenen Unterstützung.

Gleich zwei US-Teams berichten über Fortschritte in der Reha von Querschnittgelähmten mithilfe der epiduralen elektrischen Stimulation (EES).

Dabei wird Patienten unterhalb der Rückenmarksläsion ein 16-Elektroden-Array epidural implantiert, zumeist über den Bereichen L1 bis S1 und S2. Die Elektroden sind mit einem ebenfalls implantierten Stimulator verbunden, der ähnliche Signale liefern soll wie das Gehirn, wenn es die Beine zum Stehen und Gehen auffordert.

Stimulation aktiviert vorhandene motorische Netzwerke

Forscher um Dr. Susan Harkema vom Rückenmarkszentrum an der Universität in Louisville, Kentucky, haben das System vor einigen Jahren entwickelt und konnten einen Querschnittgelähmten mit sensorischer Restfunktion auf diese Weise zum Stehen bringen, nachdem sie zuvor passiv die Muskulatur trainiert hatten.

Völlig überraschend konnte der Mann nach einiger Zeit die gelähmte Muskulatur unter der Stimulation auch wieder willkürlich bewegen und seine Blase kontrolliert entleeren.

Die Forscher gingen davon aus, dass einige motorische Fasern die Läsion überlebt haben, aber ihre Signale bisher zu schwach waren, um die Muskeln supraspinal zu aktivieren.

Durch die Reaktivierung des lumbosakralen neuronalen Netzwerks per Stimulator können die nun erregten Inter- und Motoneurone die schwachen Hirnsignale wieder empfangen und weiterverarbeiten.

Für diesen Mechanismus spricht die rasche Reaktion bei einigen der Patienten: Zum Teil sind bereits nach wenigen Tagen wieder die ersten Willkürbewegungen möglich, und das lässt sich nur durch noch vorhandene, bislang stumme Fasern erklären, nicht durch neuronale Regenerationsprozesse, bei denen Axonen über die Läsion hinweg neu aussprossen. Allerdings könnte eine solche axonale Regeneration langfristig den Erfolg verstärken.

In einer 2014 veröffentlichten Publikation war es den Forschern um Harkema gelungen, die Willkürmotorik auch bei solchen Patienten wieder etwas zu reaktivieren, die weder eine sensorische noch motorische Reaktion jenseits der Läsion zeigten (Grad-A-Läsion nach der American Spinal Injury Association Impairment Scale).

85 Wochen lang Training

In ihrer aktuellen Arbeit demonstrieren die Forscher bei vier Patienten, wie weit sich die EES eignet, Gelähmten das Gehen wieder beizubringen.

Zwei der Patienten hatten eine Grad-A-Läsion im Bereich T4, sie konnten also weder Muskeln unterhalb der Läsion aktivieren noch jenseits davon etwas empfinden. Zwei spürten eine Berührung oder einen Nadelstich, konnten ihren Sphinkter aber nicht kontrollieren (Grad-B-Läsion).

Alle waren nach verheilter Verletzung einem Rehaprogramm mit intensivem Bewegungstraining unterzogen worden, ohne dass sich ein Erfolg zeigte – der Versuch, die Beine zu bewegen, führte nicht einmal zu einer EEG-Reaktion in der entsprechenden Muskulatur.

Alle vier Patienten erhielten daraufhin epidurale Elektroden im Bereich L1 bis S2 implantiert, die Verletzung lag zu diesem Zeitpunkt zweieinhalb bis dreieinhalb Jahre zurück.

Nach einem intensiven Training unter der Stimulation gelang es den beiden Grad-B-Patienten, mit einem Gehrahmen wieder einige Schritte selbstständig zu gehen.

Der eine Patient benötigte dafür 85 Wochen Training, der andere nur 15. Die Patienten erreichten eine Gehstrecke von über 350 Metern und schafften bis zu 90 Meter ohne Pause bei einer Geschwindigkeit von etwa 0,2 m/s.

Den Patienten mit Grad-A-Läsion gelang es immerhin, auf einem Laufband zu gehen, aber nicht ihr Gewicht selbstständig zu tragen. Auch konnten sie in einem Gehrahmen selbstständig stehen, aber nicht gehen.

Alle Patienten mussten sich bei den Geh- und Stehversuchen mangels Balance festhalten, eine Patientin konnte für 10 Sekunden auch ohne Unterstützung stehen. Willkürliche Bewegungen waren bei allen nur während der Stimulation möglich.

Ein Patient zog sich beim Training eine spontane Hüftfraktur zu, trainierte ein Jahr später aber wieder weiter.

Erfolg auch bei kompletter sensomotorischer Lähmung

Auffallend ist, dass nur die beiden Grad-B-Patienten wieder in der Lage waren, selbstständig in Gang zu kommen. Doch offenbar ist auch ein Erfolg bei Querschnittgelähmten möglich, die subläsional weder motorische noch sensorische Reaktionen zeigen.

Dies konnten Forscher um Dr. Megan Gill von der Mayo Clinic in Rochester belegen. Sie schafften es, einem Grad-A-Patienten drei Jahre nach der Verletzung das Gehen mit einer Art Rollator beizubringen.

Der Patient hatte sich im Alter von 26 Jahren eine komplette T6-Läsion zugezogen. Er musste sich nach der Implantation von Elektroden im Bereich T11-L1 insgesamt 43 Wochen lang einem multimodalen Rehaprogramm unterziehen.

Die Gehhilfe hatte vorne zwei Räder und hinten zwei Beine. Beim Gehen wird der Patient aufgrund mangelnder Balance leicht geführt, kann aber sein eigenes Körpergewicht tragen.

Der Erfolg beruht wohl auch auf einem weiterentwickelten Stimulationsverfahren, welches die Gehbewegungen noch besser nachahmt. Entscheidend in allen Fällen ist jedoch ein willkürlicher Impuls – der Stimulator setzt die Patienten nicht von sich aus in Gang.

Das Verfahren dürfte aber noch lange nicht alltagstauglich sein, darauf verweisen auch deutsche Ärzte. Der beobachtete Effekt sei wissenschaftlich interessant, aber mit den gezeigten Fortschritten könne ein Patient nicht seinen Alltag meistern, sagte Professor Norbert Weidner von der Klinik für Paraplegiologie in Heidelberg der Nachrichtenagentur dpa.

Er sieht bei nicht vollständig Gelähmten, die unterhalb der Läsion zumindest noch leichte Bewegungen ausführen können, ein größeres Potenzial für diesen Ansatz.

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