Margarete Mitscherlich ist tot

Sie war die große alte Dame der Psychoanalyse: Margarete Mitscherlich. Jetzt ist sie im Alter von 94 Jahren gestorben. Die Ärztin zählte zu den bedeutendsten Intellektuellen im Nachkriegsdeutschland.

Von Pete Smith Veröffentlicht:
Mitscherlich im Sommer 2009.

Mitscherlich im Sommer 2009.

© Frank Rumpenhorst / dpa

FRANKFURT/MAIN. "Wer seiner Angst vor der Position des Außenseiters erliegt, gerät in Gefahr, zum Mitläufer zu werden", schrieb sie in ihrem 1987 erschienenen Werk "Erinnerungsarbeit. Zur Psychoanalyse der Unfähigkeit zu trauern".

Mitläufer wollte Margarete Mitscherlich-Nielsen nie sein, Außenseiterin war sie bis zum Schluss. In dieser Rolle hat die Ärztin, Psychoanalytikerin und Schriftstellerin das Denken in Deutschland wie kaum eine andere Intellektuelle ihrer Zeit geprägt.

Am Dienstag ist Margarete Mitscherlich in Frankfurt am Main gestorben, wenige Wochen vor ihrem 95. Geburtstag.

Als Margarete Nielsen wurde sie 1917 in Gravenstein, einem kleinen Ort an der dänisch-deutschen Grenze, geboren. Ihr dänischer Vater war Arzt, ihre deutsche Mutter Lehrerin. In den 1920er Jahren siedelte die Familie nach Deutschland über.

In Flensburg absolvierte Margarete Nielsen ihr Abitur, an der Universität München schrieb sie sich zunächst für Germanistik, später für Medizin ein.

1944 legte sie in Heidelberg ihr medizinisches Examen ab und promovierte sechs Jahre später in Tübingen zum Dr. med.

Bedeutende Vordenkerin

In der Schweiz hatte sie 1947 ihren späteren Mann Alexander Mitscherlich (1908 bis 1982) kennengelernt, einen der einflussreichsten Mediziner seiner Zeit, der als Beobachter der Nürnberger Prozesse die bahnbrechende Studie "Medizin ohne Menschlichkeit" verfasste.

Angeregt durch ihn, wandte sie sich der Psychoanalyse zu. Ihre Ausbildung führte sie von Heidelberg nach Stuttgart und London, wo sie unter anderen bei Anna Freud und Michael Balint lernte.

1960 gründeten sie und Alexander Mitscherlich, mit dem sie seit 1955 verheiratet war, in Frankfurt am Main das Sigmund-Freud-Institut, eine der renommierten Forschungseinrichtungen ihrer Art.

Seite an Seite entwickelten sich die Mitscherlichs mit zu den bedeutendsten Vordenkern der deutschen Nachkriegszeit. Ihre 1967 gemeinsam veröffentlichte Analyse "Die Unfähigkeit zu trauern" zählt heute zu den Klassikern der Sozialpsychologie.

Infolge ihrer Beschäftigung mit weiblicher Psyche und Sexualität wendet sich Margarete Mitscherlich in den 1970er Jahren der Frauenbewegung zu. Schon bald gilt sie (neben Alice Schwarzer) als eine der engagiertesten Kämpferinnen für Gleichberechtigung in Deutschland.

Sie streitet für die Abschaffung des Abtreibungsparagraphen 218, verklagt den "Stern" wegen eines sexistischen Titelbilds und veröffentlicht 1985 ihre vielleicht wichtigste eigene Schrift "Die friedfertige Frau", in der sie das unterschiedliche Aggressionsverhalten der Geschlechter analysiert.

Appell an die Frauen

Noch im hohen Alter ermuntert sie Frauen, offensiv für ihre Rechte einzustehen. In der "Ärzte Zeitung" beispielsweise appellierte sie wenige Wochen vor ihrem 90. Geburtstag an junge Ärztinnen, ihre Karriere mit Nachdruck zu verfolgen.

Mitscherlich damals: "Ich habe, unerhört für eine Feministin, den leisen Verdacht, dass, wenn die Frauen das energischer betreiben würden, sie auch häufiger höhere Positionen einnehmen könnten."

"Ich fürchte mich vor dem Tod", schrieb Margarete Mitscherlich in ihrer Autobiographie "Die Radikalität des Alters", "versuche aber, mich an den Gedanken zu gewöhnen. Das gelingt mir insofern, als ich zwar täglich an den Tod denke, aber ohne akute Angst."

Da war sie 93. Und immer noch auf der Suche nach Antworten, ihr eigenes Leben und das ihrer Zeitgenossen betreffend.

Sie bewahrte sich ihre Fröhlichkeit und Selbstironie, einen Gehwagen, den sie benötigte, nannte sie: "eine peinliche Karre". Mit Margarete Mitscherlich ist die bedeutendste und mutigste Ärztin des 20. Jahrhunderts gegangen.

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