Bundestagswahl: Rückblick

2006 – Das Jahr, in dem die Ärzte auf die Straße gingen

Das hatte es in der Geschichte der Ärzte noch nicht gegeben: 14 Wochen Medizinerstreik an Unikliniken, Großdemonstrationen mit mehr als 50.000 Teilnehmern. 2006 markiert eine in der Gesundheitspolitik überfällige Reaktion auf drohenden Ärztemangel.

Von Helmut Laschet Veröffentlicht:
Etwa 500 Mediziner der Universitätskliniken in Rostock und Greifswald protestieren am Donnerstag (15.06.2006)

Ärzteprotest in Greifswald 2006: In jenem Jahr gingen Zehntausende Mediziner auf die Straße.

© Jens Büttner / dpa-Zentralbild / picture-alliance

„Der Arzt als Hauptverantwortlicher in der Gesundheitsversorgung ist heute wirtschaftlich dramatisch schlechter gestellt als Ende der 70er Jahre.“ Das war das Resümee eines Mannes, der es wissen musste: Dr. Eckart Fiedler, Arzt, Honorarchef und Hauptgeschäftsführer der KBV von 1972 bis 1988, Chef des Ersatzkassenverbandes und schließlich der Barmer bei seinem Eintritt in den Ruhestand im September 2005.

Seine Karriere als Arzt und Funktionär bei KBV und Kassen war geprägt durch eine Serie von Kostendämpfungsgesetzen, von Überversorgung durch eine „Ärzteschwemme“, Budgetierungen, Regressverschärfungen und abschreckenden Maßnahmen gegen den ärztlichen Nachwuchs durch Arzt im Praktikum (AiP) und Zulassungssperren.

Mit wachsender Schärfe hatte die Politik über fast 30 Jahre mehr gegen als mit den Ärzten Gesundheitspolitik gemacht, bis sich 2005/2006 der aufgestaute Zorn in Demonstrationen und Streiks manifestierte.

Zwar hatte Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt bereits 2004 erkannt, dass von einer Überversorgung mit Ärzten längst nicht mehr die Rede sein konnte, und als Folge dessen den AiP abgeschafft. Der AiP diminuierte den jungen Mediziner zum Unter-Arzt, der bei halbiertem Gehalt eigenverantwortlich nicht tätig sein durfte.

Marburger Bund wird Tarifpartei

In wichtigen gesellschaftlichen Gruppierungen wie Gewerkschaften waren der wachsende Unmut und die sich ändernden Markt- und Machtverhältnisse nicht wahrgenommen worden. So weigerte sich die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi 2005 bei einer großen Reform des öffentlichen Tarifrechts, für die Ärzte einen eigenen Tarifvertrag auszuhandeln, der ihren besonderen Arbeitsbedingungen hätte gerecht werden sollen.

Nach 55 Jahren kündigte der Marburger Bund die Tarifgemeinschaft mit Verdi im September 2005; er erklärte sich zur eigenständigen Gewerkschaft und Tarifvertragspartei von Ländern, Kommunen und anderen Trägern von Krankenhäusern. Das Ziel der neuen vollwertigen Ärztegewerkschaft: Gehälter von Bundesangestelltentarif plus 30 Prozent, zudem angemessene Arbeitsbedingungen.

Riskante Trennung

Für den Marburger Bund war die historische Entscheidung zur Eigenständigkeit riskant: juristisch, vor allem aber auch machtpolitisch. Würde der Zorn der Klinikärzte reichen? Ließe sich durch Streik hinreichender Druck auf die Arbeitgeber mobilisieren lassen? 14 Wochen streikten die Uniärzte an verschiedenen Standorten.

Nach neun Monaten zäher Verhandlungen stand Mitte Juni 2006 ein Angebot für einen Gehaltszuwachs von 509 Euro im ersten und 709 Euro im zweiten Berufsjahr – weniger als die geforderten 30 Prozent Plus, aber ein Fortschritt im Vergleich zu dem, was Verdi für die Ärzte hatte aushandeln wollen, nämlich ein Gehaltsminus. „Tarifgeschichte schreiben und Kröten schlucken“, machte MB-Chef Frank-Ulrich Montgomery seiner Tarifkommission das Ergebnis schmackhaft, sie akzeptierte.

Die Tarifgeschichte gibt der damaligen MB-Führung recht: Heute startet ein junger Arzt mit einem Tarifgehalt von fast 5000 Euro monatlich, ein Facharzt mit über 6500 Euro. Mit seinen 127.000 Mitgliedern unter den rund 207.000 Klinikärzten gilt der Marburger Bund als eine der bestorganisierten Gewerkschaften.

Der Zorn der Vertragsärzte

Nahezu zeitgleich formierte sich auch der Protest der niedergelassenen Ärzte. Hintergrund waren einerseits Pläne der gerade neu geschmiedeten großen Koalition unter Angela Merkel für eine Liberalisierung des Vertragsarztrechts zur Abwendung drohenden Ärztemangels.

Eine Regelung sah vor, den KVen den Sicherstellungsauftrag partiell zu entziehen, wenn sie nicht in der Lage waren, freie Arztsitze zu besetzen. Schließlich brachte auch das Gesetz zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in der Arzneiversorgung die Ärzte auf die Palme: Es sah eine Bonus-Malus-Regelung für Unter- und Überschreitungen von Arzneitherapiekosten vor.

Das berührte aus der Sicht der Bundesärztekammer und deren Präsident Jörg Dietrich Hoppe die ethischen Fundamente des Arztberufs: Mit dieser Art der Sanktionierung und Incentivierung der Arzneimitteltherapie werde der Primat der Ökonomie über den der medizinisch notwendigen Patientenversorgung gesetzt, Ärzte gerieten in den Generalverdacht, auf Kosten ihrer Patienten zu sparen, ja sich gar zu bereichern.

Chefärzte unter der DRG-Knute

Das Bonus-Malus-System bei Arzneien war einer jener Regelungen, die das Fass zum Überlaufen brachte. Aber gegärt hatte es schon lange zuvor bei den Ärzten. Vor allem auch unter den traditionell hoch privilegierten Chefärzten: durch die Einführung der Fallpauschalen (DRG) seit Anfang der 2000er Jahre. Nicht mehr die Verweildauer, sondern die Diagnose, die dahinter stehenden medizinischen Prozeduren und möglichst hohe Fallzahlen bestimmten nun die Erlöse der Kliniken.

Folge: Die Verwaltungsinspektoren wurden von Betriebswirten und einer neuen Generation von Managern abgelöst, die ihrerseits den Chefärzten diktierten, wie ein Case-Mix zu optimieren, die Verweildauer zu minimieren und die Fallzahl zu maximieren sei. Das war das Ende der alten Chefarzt-Herrlichkeit – wer nicht mitzog, flog. Die üppige Abfindung musste der Nachfolger nicht selten aus seiner Privatliquidation abstottern.

Mit Beginn des Jahres 2006 entlud der Zorn der Ärzte sich öffentlich: in etlichen Massendemonstrationen in Berlin und anderen Städten. Niedergelassene und Klinikärzte Seite an Seite mit ihren MFA – in der Spitze zählte die Polizei bis zu 50.000 Demonstrationsteilnehmer.
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„Staatliche Verantwortungslosigkeit“

An die Spitze des Protests gegen die schleichende „Ökonomisierung der Medizin“ setzte sich BÄK-Präsident Hoppe. Die Politik handle „unredlich“, wenn sie jedem zu jeder Zeit an jedem Ort optimale Medizin verspreche, dem Gesundheitssystem zugleich aber die Mittel dafür entziehe. Hoppes apokalyptische Allegorie: Staatliche Verantwortungslosigkeit verbünde sich mit Kommerz und Kapital – auf Kosten freier Ärzte und der ihnen anvertrauten Patienten.

Die KBV und das KV-System reagierte rationaler und kühler. Das Ziel war, politikfähig zu bleiben, die Handlungsspielräume zu sichern und neue Chancen zu nutzen: Mit dem Vertragsarztrechtsänderungs-Gesetz und der anstehenden großen Gesundheitsreform.

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