Barmer prangert an

Arzneimitteltherapie oft „im Blindflug“

Ärzte und Kliniken tauschen sich nur unzureichend über die Medikation ihrer Patienten aus, beklagt die Barmer. Krankenhausärzten fehlen oft Infos zur Medikation, der Hausarzt erfährt nichts über Therapieänderungen, heißt es im Arzneimittel-Report.

Thomas HommelVon Thomas Hommel Veröffentlicht:
Wie viele Pillen sind geboten? Der Arzneireport der Barmer weist auf das ungelöste Problem der Polypharmazie hin.

Wie viele Pillen sind geboten? Der Arzneireport der Barmer weist auf das ungelöste Problem der Polypharmazie hin.

© Özgür Donmaz / iStock / Thinkstock

Berlin. Krankenkassen schlagen Alarm – der Grund: Ärzte und Kliniken tauschen sich nur unzureichend über die Medikation ihrer Patienten aus.

Der oftmals stockende Informationsfluss gefährde vor allem diejenigen, die mehr als fünf Medikamente gleichzeitig einnähmen, heißt es im neuen Arzneimittel-Report der Barmer. Die Kasse stellte ihre Studie am Donnerstag in Berlin vor.

Nicht mal jeder Dritte hat Medikationsplan

Gerade bei Patienten mit Mehrfachmedikation kommt es demnach bei Aufnahme ins und Entlassung aus dem Krankenhaus zu Informationslücken. So hatten nur 29 Prozent der Patienten bei Klinikaufnahme einen Medikationsplan.

17 Prozent verfügten über gar keine Aufstellung ihrer Arzneien. Bei jedem Dritten war der Plan unvollständig, wie eine für den Report durchgeführte Umfrage unter rund 2900 bei der Barmer versicherten Polypharmazie-Patienten ergab.

Millionenfacher Prozess, dennoch Fehler

„Es ist unverständlich, dass die Aufnahme in ein Krankenhaus als millionenfacher Prozess so fehleranfällig ist“, sagte Barmer-Vorstandschef Professor Christoph Straub. Allein 2017 seien bundesweit 2,8 Millionen Personen am Tag ihrer Krankenhausaufnahme Polypharmazie-Patienten gewesen.

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Jeder gesetzlich Versicherte, der drei oder mehr Arzneimittel benötige, habe seit 2016 Anspruch auf einen Medikationsplan, „um Informationslücken und damit Risiken zu vermeiden“, erinnerte Straub.

Der Medikationsplan sei auch bei Entlassung aus der Klinik wichtig. Nur so könne der Hausarzt erkennen, ob es Änderungen bei der Medikation gab.

Stockender Informationsfluss Richtung Hausarzt

Dieser Informationsfluss stockt aber ebenfalls. Belege dafür liefert eine Umfrage für den Report unter 150 Hausärzten. 40 Prozent der befragten Allgemeinmediziner sind demnach mit Informationen aus dem Krankenhaus „unzufrieden“ oder sogar „sehr unzufrieden“. Nur bei jedem dritten betroffenen Patienten seien die im Krankenhaus erfolgten Therapieänderungen begründet worden.

Dass solche Änderungen in der medikamentösen Therapie nicht selten sind, geht aus Routinedaten der Kasse hervor: So hatten 41 Prozent der Barmer- Versicherten, knapp 484.000 Patienten, nach Entlassung aus der Klinik mindestens ein neues Arzneimittel bekommen.

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„Umfassende Informationen von der Klinik hin zum weiterbehandelnden Arzt sind unerlässlich“, sagte der Autor des Arzneimittel-Reports und Chefarzt am Klinikum Saarbrücken, Professor Daniel Grandt.

Ein funktionierender Informationsfluss sei umso wichtiger, „da stationär behandelte Patienten zunehmend älter sowie mehrfach erkrankt sind und polypharmazeutisch behandelt werden“.

Überleitung als Dauerbaustelle

Das Gesundheitswesen in Deutschland sei von einer modernen sektorenübergreifenden Versorgung noch „meilenweit entfernt“, kritisierte Grandt. Das sei unverständlich, weil nicht nur Sachverständige, sondern auch Ärzte das Problem seit gut einem Jahrzehnt anprangerten. Dennoch finde Arzneimitteltherapie bei Klinikaufnahme mitunter „im Blindflug“ statt.

„In Jahrzehnten ist es nicht gelungen, die Versorgung über die Sektorengrenzen hinweg besser zu organisieren“, monierte auch Barmer-Chef Straub. „Es ist nicht das Versagen der Ärzte, es ist eine Frage der Organisation.“

Nach wie vor fehle ein „durchgängiges, digitales System“, das Verordnungen erfasse und alle an der Therapie beteiligten Ärzte informiere. Die Grundlage dafür werde mit der Telematik-Infrastruktur geschaffen. „Insofern glaube ich, dass das Problem angegangen wird“, sagte Straub.

Widrige Rahmenbedingungen

Klinikarzt Grandt betonte, natürlich gebe es auch ärztliches Versagen. „Aber der einzelne Arzt ist nicht das Problem.“ Ursächlich seien oft widrige Rahmenbedingungen.

Grandt gab folgendes Beispiel: „Für eine vernünftige Medikations-Anamnese braucht der Arzt 20 bis 30 Minuten – das ist aber die Zeit, die er überhaupt für die Aufnahme des Patienten hat. Und in dieser Zeit wird er noch im Schnitt acht Mal unterbrochen, weil er andere Patienten versorgen muss. Das kann nicht funktionieren.“

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