Kommentar

Den Gesundheitsweisen reißt der Geduldsfaden

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:

Es ist ein Beschleunigungsprogramm, um die hausärztliche Versorgung zukunftsfest zu machen, das die Gesundheitsweisen in ihrem neuen Gutachten formuliert haben. Zugleich lässt sich aus der Expertise des Sachverständigenrats - unausgesprochen - eine Misstrauenserklärung gegen das KV-System herauslesen: Die sich abzeichnende Unterversorgung in ländlichen Regionen ist nicht konsequent angegangen worden, obwohl die Instrumente dafür vorhanden gewesen wären. Jetzt empfehlen die Gutachter dem Gesetzgeber, zu drastischen Mitteln zu greifen.

Knapp 15 Jahre ist es her, dass der Rat sein Gutachten zur "Über-, Unter- und Fehlversorgung" vorgelegt hat. Damals, kommentieren die Professoren, habe man sich kaum vorstellen können, dass es jemals zu einer regionalen Unterversorgung im deutschen Gesundheitswesen kommen könnte. Nun zeichnet sich genau dieses Szenario ab: 52 Mittelbereiche in acht KVen sind als drohend unterversorgt eingestuft.

Das bisherige Vorgehen von Politik und Selbstverwaltung sei "leider nicht in der Lage gewesen", die "kontinuierliche Verschärfung" der Situation zu verhindern.

Eine zentrale Ursache ist die wachsende räumliche Ungleichverteilung von Ärzten: Neben Regionen mit drohender oder schon bestehender hausärztlicher Unterversorgung existieren Gebiete mit ausgeprägter fachärztlicher Überversorgung - vor allem in "wohlhabenden urbanen Regionen, in denen viele Privatversicherte leben".

Alle bisherigen Instrumente - Bedarfsplanung, Anreize zur Niederlassung in strukturschwachen Regionen - haben an dieser Überversorgung nichts geändert. Ein einziger Arztsitz in Nordrhein ist bisher von einer KV aufgekauft worden. Mehrere KVen bezeichneten in einer Umfrage einen Aufkauf als nicht nötig - "nicht nachvollziehbar", kommentiert der Rat.

Seine Empfehlungen: Bei Überversorgung ab 200 Prozent sollen KVen zum Aufkauf von Arztsitzen verpflichtet werden - bundesweit 1739 Praxen wären davon betroffen.

Außerdem schlagen die Gesundheitsweisen einen Vergütungszuschlag von bis zu 50 Prozent für Landärzte vor, die sich in Regionen mit weniger als 90 Prozent Versorgungsgrad niederlassen - garantiert auf zehn Jahre. Woher sich diese Höhe des Aufschlags ableitet, bleibt im Dunkeln.

Bezahlt werden soll er von Ärzten in nicht unterversorgten Planungsbereichen. Eine finanzielle Überforderung einzelner KVen dadurch sei "zunächst nicht erkennbar". Mag sein - doch die Gesundheitsweisen haben eine Blaupause für eine regional und versorgungsabhängig differenzierte Vergütung entworfen, die das KV-System mächtig unter Druck setzen würde - wenn Politiker dem Vorschlag folgen.

Lesen Sie dazu auch: Landarztmangel: Die Rezepte der Gesundheitsweisen

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Kommentar zum geplanten „Gesundheitspunkt“ im Rems-Murr-Kreis

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Kommentare
Anne C. Leber 02.07.201409:19 Uhr

Leserzuschrift von Dr. Manfred Reeb

Die Breitseite gegen Ärzte und KV unter dem Deckmantel der "Gesundheitsweisen" ist leider voll daneben, sie wird kein Problem lösen, sondern nur Probleme schaffen.

Solange komplett ignoriert wird, dass das den Fachärzten zur Verfügung stehende Honorar je nach KV nur zwischen 70 bis 80 Prozent der Leistungen zu 3,5ct/Punkt abdeckt, d. h. 20 bis 30 Prozent der Leistungen gar nicht bezahlt werden, selbst ein Punktwert von 3,5ct jeder ärztlichen Leistung Hohn schreit, da häufig nicht kostendeckend (zur Erinnerung: im Jahr 1984, als ich mich gegen eine Niederlassung als Landarzt entschied, betrug der Punktwert über 5 ct und man konnte mehr abrechnen, bei Schaffung des aktuellen EBM waren 5,11ct/Punkt als verpflichtend vereinbart worden), wird keine KV guten Gewissens dort auch noch signifikant Geld abziehen können zur Finanzierung der Hausarztmedizin in unterversorgten Gebieten, möge die Politik oder Gesundheitsweise Druck machen wie sie wollen.

Auch wird eine Selbstverwaltung kaum ein totgerittenes Pferd zu hohen Kosten aus dem Boden stampfen (Koordinierungsstelle für Facharzttermine), wenn dafür jede Basis fehlt. Bei oben genannter
Unterfinanzierung sind Forderungen nach noch mehr Facharztinanspruchnahmen durch solch eine Koordinierungsstelle absurd, vor allem wenn man gleichzeitig das Lied der Überversorgung singt (Überversorgung schließt per se Wartezeiten aus).

Was bedeuten denn die vielbeschworenen "200 Prozent Überversorgung" bei Fachärzten, z. B. meine Region Kaiserslautern, z. B. bei fachärztlichen Internisten 200 Prozent "überversorgt": 4 niedergelassene Kardiologen bei 100.000 Einwohnern, demgegenüber 0 niedergelassene Kardiologen im Landkreis Kaiserslautern bei 120.000 Einwohnern, 2 Gastroenterologen in der Stadt gegenüber 0 im Landkreis, 2 Nephrologen gegenüber 1 im Landkreis, 3 Hämatologen gegenüber 0 im Landkreis und 0 in 3 weiteren Nachbarkreisen bei 380.000 Einwohnern, 3 Pneumologen Stadt gegenüber 0 Landkreis usw.
Alle sind rappelvoll und arbeiten jenseits des Anschlags, sodass die Koordinierungsstelle hier "völlig balla" ist.

Das einzige Krankenhaus in der Region ist ohnehin immer überfüllt, soll aber Betten abbauen. Welche Praxis soll denn die KV bitte aufkaufen und mit welchen Mitteln?
Praxisaufkäufe schmälern schließlich das Honorar der im System verbliebenen, die ja die Arbeit der aufgekauften mit leisten müssen, obwohl sie am Anschlag arbeiten. Wer soll denn den medizinischen Fortschritt an die Patienten bringen?

Wenn Geld keine Rolle spielt (Ärzte brauchen ja bei Mehrleistungen und steigenden Kosten offenbar als einzige Berufsgruppe keine Honorarerhöhung pro Leistung seit über 30 Jahren), wieso kommt man dann doch auf einen Zuschlag von 50 Prozent in "unterversorgten Gebieten", aber nur für zehn Jahre und vermutlich wieder frei floatend, s. EBM 5,11ct./Punkt?

Einen derartigen Schwachsinn mit großen Worten hochzustilisieren hilft wirklich nicht. Ich sehe die Situation gelassen. Solange die Ärzte Zeitung im Gleichklang mit Politik, Kassen und Gesundheitsweisen so weiter macht, wird sich die Abstimmung mit den Füßen verstärken.
Ich werde jedenfalls ab nächstem Quartal in dem für die "Leistungserbringer" menschenverachtenden System nur noch Teilzeit hamsterradeln und meine finanziellen Ansprüche zurückfahren, und ich werde nicht der Einzige bleiben.

Wer Unterversorgung beseitigen will, darf die, die die Versorgung machen sollen, nicht verachten. Warme Worte reichen nicht. Es "muß Butter bei de Fisch".

Dr. Manfred Reeb, Kaiserslautern

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