23 Thesen

Gesundheitsexperten kritisieren Corona-Politik scharf

Die Corona-Impfung dauert vier Jahre, ungezielte Tests verzerren Messwerte, der Bundesregierung fehlt die politische Fantasie: Eine Gruppe hochrangiger Gesundheitsexperten meldet sich im Vorfeld neuer Bund-Länder-Gespräche mit provokanten Thesen zu Wort.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:
Renommierte Gesundheitsfachleute kritisieren die Bundesregierung dafür, dass weitreichende Entscheidungen beim Shutdown auf der Basis wenig valider Daten getroffen wurden.

Renommierte Gesundheitsfachleute kritisieren die Bundesregierung dafür, dass weitreichende Entscheidungen beim Shutdown auf der Basis wenig valider Daten getroffen wurden.

© WoGi / stock.adobe.com

Berlin. Im Vorfeld der Gespräche zwischen Bund und Ländern am Mittwoch (6. Mai) haben Gesundheitsexperten massive Kritik an der aktuellen Corona-Politik geübt.

Die „typische Infektionskrankheit“ COVID-19 stelle keinen Anlass dafür dar, in „quasi metaphysischer Überhöhung alle Regeln, alles Gemeinsame, alles Soziale in Frage zu stellen oder sogar außer Kraft zu setzen“, schreibt eine Gruppe von gesundheitspolitischen Fachleuten um den früheren Abteilungsleiter im Gesundheitsministerium und Mitautor des SGB V Franz Knieps in einem Papier mit Datum vom 3. Mai, das der „Ärzte Zeitung“ vorliegt.

In insgesamt 23 Thesen äußern sie unter anderem Zweifel daran, ob der wissenschaftliche Instrumentenkasten zur Ausstattung der Politik mit Entscheidungsgrundlagen ausreichend genutzt wird. Einer Ausweitung des Testumfangs stehen sie skeptisch gegenüber. Sollte es einen Impfstoff geben, könne es außerdem bis zu vier Jahre dauern, bis die Bevölkerung durchgeimpft wäre.

Was hat‘s gebracht?

Zudem stellen sie die Frage, ob die Alltagsbeschränkungen und Geschäftsschließungen überhaupt etwas gebracht haben. Die häufig als Begründung dafür angeführte Reproduktionszahl liege ausweislich von Daten aus dem Robert Koch-Institut (RKI) bereits seit vor dem 23. März unter dem Wert 1, deute also seither schon auf ein Abklingen der Epidemie hin.

Es gebe deutliche Anhaltspunkte, dass einfache Maßnahmen wie das Verbot von Großveranstaltungen bereits ausgereicht hätten, um auf den aktuellen Stand der Epidemie zu kommen.

Die Autoren stellen in diesem Zusammenhang „unverändert Probleme in der Berichterstattung und Strategie“ fest. Zahlen und Messgrößen, auf denen politische Entscheidungen im Zusammenhang mit COVID fußten, widersprächen sich und würden von den Akteuren jeweils unterschiedlich interpretiert.

Epidemie ist nicht simpel messbar

Die Annahme des RKI, das Ausbruchsgeschehen in Deutschland lasse sich wie Wasserstände mit einem Peilstab mittels täglicher Messungen homogen abbilden, sei nicht zutreffend. Vielmehr handele es sich um ein „inhomogenes, herdförmig ablaufendes Geschehen“.

Ihre These: „Die Aussagekraft der täglich gemeldeten Neuinfektionen in der jetzigen Form ist sehr gering.“ Dieser Wert solle dringend um die Zahl der im gleichen Zeitraum getesteten Personen ergänzt werden.

Das Papier schreibt das Thesenpapier „Datenbasis verbessern, Prävention gezielt weiterentwickeln, Bürgerrechte wahren“ vom 4. April fort. Damals wie heute sind die Autoren die ehemaligen Gesundheitsweisen Professor Matthias Schrappe und Professor Gerd Glaeske, der ehemalige Vorsitzende des Expertenbeirats des Innovationsfonds Professor Holger Pfaff. Die Pflegekompetenz ist durch Hedwig Francois-Kettner vertreten.

Der heutige Vorsitzende des BKK-Dachverbands Franz Knieps und – neu – der Pathologe Professor Klaus Püschel vervollständigen die Expertise hinter den Thesen. Staatsrat Dr. Matthias Gruhl aus der Hamburger Gesundheitsbehörde, Mitautor der Thesen vom 4. April, hat das neue Papier nicht unterzeichnet.

Experten mahnen mehr Fantasie an

Die Autoren mahnen eine fantasievollere und erfindungsreichere gesellschaftliche Lösungskompetenz an, die auf der Suche nach Präventionsstrategien über Kontaktsperren und soziale Isolation hinausreiche.

Es fehlten „energisch vorangetriebene Kohorten- und Clusterstudien“, um bessere Daten zur Prävalenz von COVID-19 verfügbar zu machen. Grundsätzlich überschätzten Prävalenzstudien nämlich die Häufigkeit im Vergleich zur Inzidenz und die Bedeutung von Patienten mit schweren Verläufen. Wegen der deutlichen Hinweise auf eine relevante Zahl asymptomatisch Infizierter und eine hohe Dunkelziffer müsse der Aufwand für solche Studien verstärkt werden. Zielgruppenspezifische Prävention solle an die Stelle von Social distancing treten.

Warnung vor Ausweitung der Testungen

Geplant werden sollten daher zudem repräsentative Stichproben mit PCR und Antikörper-Serologie sowie künftig Antigentests. Vor einer massiven Ausweitung der Testungen, wie sie in dem derzeit vorbereiteten „Zweiten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ anklingt, sei dagegen zu warnen.

Nicht zuletzt auch deshalb, weil damit auch eine Zunahme falsch-positiver Testergebnisse provoziert werde, die dann aufwändig nachverfolgt werden müssten. Die Autoren schwächen auch die Bedeutung der Reproduktionszahl, die von Politikern immer wieder als wichtiges Maß angeführt wird.

Sie verweisen auf Erkenntnisse auch aus dem RKI selbst, dass ein Mehr an Tests die Reproduktionszahl wieder steigen lassen werde. Umgekehrt würden weniger Tests den Wert gegen Null führen.

Corona-Impfung über vier Jahre

Die Autoren gehen für die Zukunft von einem zufälligen, ungesteuerten und keinen linearen Mustern folgenden, lokalen Auftreten von COVID-19 auf. Sie nehmen an, dass Gesundheitseinrichtungen besonders betroffen sein könnten. Schon heute sind mit 2000 rund ein Drittel aller COVID-19 zugerechneten Todesfälle in Pflegeheimen aufgetreten. Mehr als 6500 Pflegekräfte haben sich angesteckt.

Der Strategie der Bundesregierung, Infektionsketten künftig wieder vollständig kontrollieren zu wollen, räumen die Autoren daher nur geringe Chancen ein. Dafür seien das Krankheitsgeschehen und die Gesellschaft zu komplex.

Immer vorausgesetzt, ein Impfstoff sei in ausreichender Menge vorhanden, gehen die Autoren des Papiers davon aus, dass es bei 60 Millionen Menschen ohne nachgewiesene Immunität 1000 Arbeitstage, also rund vier Jahre, dauern dürfte, bis alle drangewesen wären. Die Ärzte in Deutschland müssten in diesem Zeitraum 60.000 Menschen am Tag impfen – zusätzlich zum normalen Programm.
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