Bericht für 2022

In den Niederlanden fast 14 Prozent mehr Menschen auf Verlangen getötet

8720 Menschen wurden in den Niederlanden im Vorjahr auf eigenen Wunsch von Ärzten getötet, heißt es im Bericht der staatlichen Kontrollkommission für 2022. Die am stärksten wachsende Teilgruppe: Demenzkranke.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:
Das „Kompetenzzentrum Euthanasie“ in Den Haag: Die von der Sterbehilfeorganisation NVVE mitbegründete Einrichtung will helfen, Sterbewillige an Ärzte zu vermitteln, die dann deren Tötung auf Verlangen vornehmen.

Das „Kompetenzzentrum Euthanasie“ in Den Haag: Die von der Sterbehilfeorganisation NVVE mitbegründete Einrichtung will helfen, Sterbewillige an Ärzte zu vermitteln, die dann deren Tötung auf Verlangen vornehmen.

© Remko de Waal/picture alliance/A

Den Haag. Im vergangenen Jahr sind in den Niederlanden nach offiziellen Meldungen 8720 Menschen auf eigenen Wunsch hin von Ärzten getötet worden. Das geht aus dem Jahresbericht 2022 der staatlichen Kontrollkommission hervor (Regionale Toetsingscommissies Euthanasie).

Das entspricht einem Anstieg von 13,7 Prozent im Vergleich zu 2021 (7666 Tötungen). Demnach entfielen im vergangenen Jahr 5,1 Prozent aller 169.938 Sterbefälle in den Niederlanden auf Tötung auf Verlangen (2021: 4,6 Prozent). In vier von fünf Fällen nahmen Hausärzte die Tötung der Patienten vor, heißt es im Bericht.

Rechtsgrundlage ist das 2002 in Kraft getretene „Gesetz zur Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und Hilfe bei der Selbsttötung“. Es schreibt den Ärzten unter anderem vor, sie müssten sich überzeugen, dass der Sterbewunsch „freiwillig und nach reiflicher Überlegung geäußert wurde“.

„Der Trend wird sich nicht ändern“

Der Vorsitzende der Kontrollkommission, Jeroen Recourt, erläutert im Jahresbericht, der Trend zu immer Fällen von Tötung auf Verlangen halte seit mehreren Jahren an. Es seien keine wissenschaftlichen Studien zu den Gründen dafür angestellt worden.

„Es deutet aber nichts darauf hin, dass sich dieser Trend in den kommenden Jahren ändern wird“, so Recourt, ein ehemaliger Parlamentsabgeordneter und Richter.

In fast 98 Prozent der Fälle handelte es sich um eine Tötung, die allein vom Arzt vorgenommen wurde. Knapp zwei Prozent entfielen auf eine Kombination aus Selbsttötung und Tötung auf Verlangen, heißt es im Bericht.

Das Geschlechterverhältnis der Betroffenen war mit 4412 Männern und 4308 Frauen fast ausgeglichen. Die größte Altersgruppe unter den Getöteten sind die 70- bis 80-Jährigen gewesen (2873, 32,9 Prozent). 2314 Personen waren 80 bis 90 Jahre alt (26,5 Prozent). Der älteste Patient, der seine Tötung wünschte, war dem Bericht zufolge 104 Jahre alt.

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Hoher Anteil psychischer Erkrankungen bei jungen Sterbewilligen

Allerdings hat sich im Vorjahr auch die Zahl der bis zu 60-Jährigen, die ihren Arzt um Tötung baten, auf 964 addiert. Darunter sind 86 Personen im Alter von 18 bis 40 Jahre gewesen. Bemerkenswert: In 24 dieser Fälle wurde ein psychisches Leiden als Grund für den Tötungswunsch angegeben.

Eine Meldung an die Kontrollkommissionen betraf eine Person, die zwischen 12 bis 16 Jahre alt war. Für diese Gruppe gelten laut Bericht strengere Prüfungskriterien als für Erwachsene.

Das mit Abstand häufigste Leiden, das als Grund für den Todeswunsch angegeben wird, ist eine Krebserkrankung (5046, 57,8 Prozent). Über alle Altersgruppen hinweg fällt der Anstieg der gemeldeten Tötungsfälle bei zwei Gruppen besonders stark aus: So wurden 288 demenzerkrankte Menschen getötet – das ist ein Anstieg von 34 Prozent im Vergleich zu 2021.

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Bei sechs dieser Personen habe keine vorherige schriftliche Willenserklärung vorgelegen. Der Zuwachs in dieser Teilgruppe hat damit im Vergleich zu 2020/21 weiter an Tempo gewonnen – damals betrug der Anstieg bei Demenzerkrankten 26,5 Prozent.

Ebenfalls überdurchschnittlich gestiegen ist die Zahl der Getöteten, bei denen als Grund eine „Häufung von Altersbeschwerden“ angegeben wird (plus 23,5 Prozent). Aus Sicht der in den Niederlanden einflussreichen Sterbehilfeorganisation NVVE (Nederlandse Vereniging voor een Vrijwillig Levenseinde) gibt es insbesondere in dieser Gruppe Nachholbedarf.

Es herrsche sowohl in der niederländischen Öffentlichkeit, als auch bei Ärzten Unklarheit darüber, wann eine Vielzahl altersbedingter Beschwerden Betroffene berechtigt, eine Tötung auf Verlangen zu beantragen. „Wir setzen uns daher für mehr Fortbildungen für Ärzte zu diesem Thema ein“, teilte die NVVE-Vorsitzende Fransien van ter Beek in einer Verbandsmitteilung mit.

„Lange Warteliste“ für psychisch kranke Sterbewillige

Dass die Zahl der Getöteten mit psychischen Erkrankungen im Vorjahr mit 115 Fällen im Vergleich zu 2021 konstant geblieben, wertet die Sterbehilfeorganisation als Defizit.

Viele Sterbewillige mit diesen Erkrankungen fänden keinen Hausarzt oder Psychiater, die bereit wären, eine Tötung vorzunehmen. Für diese Gruppe gebe es im „Kompetenzzentrum Euthanasie“ (Expertisecentrum Euthanasie) in Den Haag eine lange Warteliste, beklagt die NVVE.

Die Gründung dieser Einrichtung wurde 2012 von dem Sterbehilfeverein angestoßen, ist aber mittlerweile eigenständig. Die Organisation arbeitet dazu landesweit mit ambulanten Teams zusammen, bestehend aus einem Arzt und einer Krankenschwester, die Sterbewillige aufsuchen, die sonst keinen Arzt finden, der zur Tötung dieser Patienten bereit ist.

Laut den Kontrollkommissionen haben Ärzte im Vorjahr in dreizehn Fällen nicht die gesetzlichen Sorgfaltskriterien im Vorfeld einer Tötung auf Verlangen beachtet, das seien sieben Verfahren mehr als 2021. Aus Sicht von Jeroen Recourt lässt dies den Schluss zu, dass die „Euthanasie-Praxis“ in den Niederlanden als „sehr vorsichtig“ bezeichnet werden könne.

„Euthanasie“ möglich? „Ein beruhigender Gedanke“

Seit Inkrafttreten des Gesetzes im Jahr 2002 hätten die Prüfkommissionen 91.565 Verfahren bearbeitet. Nur in einem Fall habe seither ein Strafverfahren gegen einen Arzt eingeleitet werden müssen.

Die Wirkung des Sterbehilfegesetzes geht nach Ansicht des Kontrollkommissions-Vorsitzenden noch weiter: „Wie viele Menschen mögen seitdem Trost in dem Gedanken gefunden haben, dass Euthanasie möglich ist, wenn es nicht mehr weitergeht (...). Ich finde das einen beruhigenden Gedanken“, meint Jeroen Recourt im Vorwort zum Jahresbericht 2022.

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