Korrespondent Arndt Striegler bloggt

No news is good news? Von wegen!

"Sommerloch" in England: Die britischen Medien greifen absurde Nachrichten zum Thema Brexit auf – und schüren damit weitere Verunsicherung unter Ärzten und Pflegern.

Arndt StrieglerVon Arndt Striegler Veröffentlicht:
Bloggt für die "Ärzte Zeitung" aus London: Arndt Striegler.

Bloggt für die "Ärzte Zeitung" aus London: Arndt Striegler.

© privat

LONDON. Wenn die Sache nicht so ernst und wichtig wäre, könnte man fast lachen: In der altehrwürdigen Londoner Royal Albert Hall, dort also, wo jedes Jahr im September das amüsant-skurrile Musikspektakel "Last Night of The Proms" stattfindet, dürfen seit Kurzem keine EU-Flaggen mehr geschwenkt werden. Angeblich, weil das die Konzerte stört.

Und britische Fleischesser werden zum Lunch wohl bald schon mit nach Chlor schmeckenden Antibiotika-Hähnchen "Made in USA" vorliebnehmen müssen anstatt sich über knusprige Hähnchen aus Deutschland, Holland oder Frankreich freuen zu können. All das, weil Großbritannien im März 2019 die EU verlassen wird.

Die Engländer nennen diese Jahreszeit jetzt mitten im Hochsommer, wenn echte Nachrichten oft rar sind, gerne "Silly Season" , also die alberne Saison. Und albern ist das, was in den vergangenen Tagen von den britischen Politikern und Medien Neues zum Thema Brexit berichtet wird, allemal...

Atempause bis zur Bundestagswahl

Wirkliche News, wie die Verhandlungen zwischen London und Brüssel vorankommen, gibt es derzeit nicht. Zum einen befindet sich die britische Premierministerin Theresa May nach wie vor im Sommerurlaub. Zum anderen haben die EU-Chefunterhändler in Brüssel angedeutet, dass wohl vor der Bundestagswahl im September "kaum mit wichtigen Entscheidungen" zu rechnen sei. Atempause also.

Atempause, obwohl die Zeit drängt. Schließlich müssen bis März 2019 mehr als 20.000 Gesetze und Bestimmungen neu verhandelt und in britisches Recht umgesetzt werden. 43 Jahre britischer EU-Mitgliedschaft müssen da abgewickelt und neu definiert werden.

Vielleicht liegt es ja genau an dieser schier unendlich erscheinenden Flut von zu überprüfenden Gesetzestexten, Zollbestimmungen und EU-Normen, dass meine schreibenden britischen Kollegen anscheinend dazu übergegangen sind, die eher skurrilen Seiten des Brexit hervorzuheben. So warnte die EU-feindliche Tageszeitung "Daily Mail" ihre Leser in dieser Woche davor, dass mit dem Ausscheiden aus der EU "Frankenstein Chicken" aus den USA seinen Weg auf britische Teller finden könnte. Schließlich bedeute Brexit auch das Ausscheiden aus der gemeinsamen EU-Agrarpolitik und den damit zusammenhängenden Hygiene- und Schutzbestimmungen... Eine Sichtweise, die übrigens auch von britischen Agrarwissenschaftlern und Umweltschützern geteilt wird.

"Höchste Zeit" für Grenzkontrollen

Der Brexit-Blog der "Ärzte Zeitung"

» Seit mehr als zwei Jahrzehnten berichtet Arndt Striegler für die „Ärzte Zeitung“ aus Großbritannien. Den Umbruch durch den Brexit spürt er am eigenen Leib – etwa als Patient im Gesundheitsdienst NHS.

» Die Versuchsanordnung ist einmalig: Ein von der Globalisierung geprägtes Gesundheitswesen soll renationalisiert werden. Das durchkreuzt Lebenspläne von Ärzten und Pflegekräften aus dem Ausland.

» Im Wochenrhythmus schildert Blogger Arndt Striegler, der seit 31 Jahren auf der Insel lebt, von nun an die politischen und kulturellen Folgen des Brexit.

» Lesen Sie dazu auch: "Abwarten und Teetrinken funktioniert nicht mehr"

Großbritanniens auflagenstärkste Boulevard-Zeitung "Sun" ging kürzlich noch einen Schritt weiter: "Gangster mieten Flugzeuge, um Albanier nach Großbritannien zu schmuggeln!" titelte das Blatt am 31. Juli. "Sun"-Reporter hatten recherchiert, dass kriminelle Menschenschmuggler über Deutschland, Frankreich und Holland hunderte Ost-Europäer illegal nach England fliegen.

Was das mit Brexit zu tun hat? "Höchste Zeit, dass wir im März 2019 wieder die Kontrolle über unsere eigenen Landesgrenzen bekommen", so das Blatt, das täglich von weit mehr als einer Million Menschen gelesen wird...

Das zeigt, dass die EU-feindliche Stimmungsmache auf der Insel munter weitergeht. Was dazu führt, dass die Arbeitsmoral bei ausländischen Ärzten, Krankenpflegern und anderem Gesundheitspersonal weiter in Richtung Nullpunkt sinkt. Spricht man in diesen Tagen mit deutschen und anderen europäischen Ärzten, die zum Teil seit Jahrzehnten für den staatlichen britischen Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS) arbeiten, so merkt man, wie sehr der bevorstehende Brexit und die damit verbundene Unsicherheit an den Nerven und an der Moral zehrt.

"England 2017 ist nicht England 1991"

"Ich weiß nicht, ob ich weiter in diesem Land leben und arbeiten möchte, denn England 2017 ist nicht mehr das Land, in das ich 1991 kam", so ein Londoner Hausarzt, den ich seit Jahren kenne und schätze. Der Arzt war Anfang der 90iger Jahre aus Frankreich nach Großbritannien gezogen.

Gibt es denn auch Happy News in Sachen Brexit? Ja! Zwar widersprechen sich derzeit fast täglich wichtige Kabinettsmitglieder wie Außenminister Boris Johnson und Schatzkanzler Philip Hammond in Sachen Brexitkurs und dessen Zielsetzung. Doch immerhin sagte Gesundheitsminister Jeremy Hunt Anfang der Woche, Großbritannien werde auch nach März 2019 weiterhin "qualifizierte Ärzte und anderes qualifiziertes Gesundheitspersonal in der EU rekrutieren".

Denn natürlich weiß der Minister, der bei britischen Ärzten übrigens unbeliebter ist als alle seine Amtsvorgänger, dass der NHS ohne Ärzte aus Deutschland, Frankreich, Spanien und anderen EU-Staaten nicht funktionieren würde. Ich frage mich da freilich: Werden die EU-Mediziner nach dem Brexit überhaupt noch nach UK kommen wollen? Das Wetter ist ja ohnehin schlecht...

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Kommentare
Dr. Markus Junker 04.08.201709:38 Uhr

325 Mio pro Woche statt in die EU ins britische Gesundheitssystem

Wieder einmal ein Beweis dafür, daß Basisdemokratie nich automatisch richtige Ergebnisse liefert. Denn: wer sich auch sonst schon nicht überwindet, sich mit Politik zu befassen, wird es auch nicht bei einem Volksentscheid schaffen. Auch wenn Millionen etwas Falsches sagen, bleibt es trotzdem falsch. Vor allen Dingen über etwas so komplexes wie die EU-Mitgliedschaft. Das erfordert Einarbeitung in die Materie und Übersicht über die Folgen. Now we have the salad!

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