Uni Göttingen

Hunger nach Bildung

Als erste deutsche Hochschule nahm die Universität Göttingen vor genau 70 Jahren ihren Betrieb wieder auf - unter schweren Bedingungen.

Von Heidi Niemann Veröffentlicht:
Mit einem Festakt in der Aula am Wilhelmsplatz feiert die Universität Göttingen am Montag den 70. Jahrestag ihrer Wiedereröffnung im September 1945.

Mit einem Festakt in der Aula am Wilhelmsplatz feiert die Universität Göttingen am Montag den 70. Jahrestag ihrer Wiedereröffnung im September 1945.

© Wolfgang Rink

GÖTTINGEN. Einen derartigen Ansturm hatte Göttingen noch nie erlebt: Tausende junge Menschen strömten im Spätsommer 1945 in die bereits mit Flüchtlingen und Kriegsrückkehrern völlig überfüllte Stadt, um einen Studienplatz an der Universität Göttingen zu ergattern.

Die Georgia Augusta war vor 70 Jahren die erste Hochschule in Deutschland, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges den Lehrbetrieb wieder aufnahm.

Am 1. September 1945 erhielt sie von der britischen Militärregierung die Erlaubnis zur Wiedereröffnung, am 17. September 1945 begann der Vorlesungsbetrieb.

4296 Studenten wurden für das Wintersemester 1945/46 zugelassen, mehrere tausend weitere Bewerber gingen leer aus. Viele Studenten einte vor allem eines: Sie hatten großen Hunger - nicht nur auf Essen, sondern auch auf Bildung, Wissen und Kultur.

Dass so viele Studenten nach Göttingen strömten, lag auch an der geopolitischen Lage der Stadt. Wenige Kilometer östlich begann die sowjetische Besatzungszone, von dort kamen täglich Tausende Flüchtlinge über das Lager Friedland in die Region.

Kartoffelschälen in der Mensa

Viele Studenten aus dem Osten befanden sich in einer besonders prekären Lage. Abgeschnitten von Eltern und Familie besaßen sie meist nichts außer ihrer aus Uniformresten zusammengeflickten Kleidung.

Um überleben zu können, mussten sie neben dem Studium mit allen möglichen Arbeiten Geld verdienen, zum Beispiel mit Holzhacken oder Kartoffelschälen in der Mensa.

Manche gingen von Haus zu Haus, um Kämme oder Rasierklingen zu verkaufen. Um die materielle Not zu lindern, wurde auf Betreiben des Rektors das Akademische Hilfswerk gegründet, der Vorläufer des heutigen Studentenwerks.

Auch die Lehrbedingungen waren schwierig. Es fehlte an Räumen und Heizmaterial, häufig fiel der Strom aus, ständig musste improvisiert werden. Philosophische Vorlesungen fanden zum Beispiel im Hörsaal der chirurgischen Klinik statt, musikwissenschaftliche Veranstaltungen dagegen im mineralogischen Institut.

Auch die Nutzung der Universitätsbibliothek, die im November 1944 bei einem Bombenangriff erheblich beschädigt worden war, war stark eingeschränkt

 Zwar waren die meisten Bücher rechtzeitig in Sicherheit gebracht worden. Es gab aber noch keine Räume und Regale, um die eine Million Bände unterzubringen, so dass die Studenten nur sehr begrenzt Bücher ausleihen konnten.

Knapp ein Drittel der Studenten war in der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät eingeschrieben, fast 30 Prozent im Fach Medizin.

Der Anteil der Frauen war unterschiedlich hoch. In der Medizin stellten sie mehr als 30 Prozent, bei den Juristen lediglich 3,4 Prozent.

Das juristische und wirtschaftswissenschaftliche Studium liege "der Eigenart der Frau weniger", schrieb damals ein Autor in der Ende 1945 gegründeten Göttinger Universitätszeitung (GUZ), aus der später die Deutsche Universitätszeitung (DUZ) hervorging.

Entnazifizierung bruchstückhaft

Eine andere Autorin monierte, dass die Frauen nach der Rückkehr der Männer aus dem Krieg wieder aus der Hochschule herausgedrängt würden mit dem Argument, dass Frauen in einer "typisch männlichen Bildungsanstalt" nichts zu suchen hätten.

Auch wenn in der Aula nun nicht mehr die Büste Adolf Hitlers vor der Königswand platziert war, blieb die Entnazifizierung bruchstückhaft. Zwar war eine Reihe von Professoren und Dozenten, die sich in der NS-Zeit als Führungsfiguren hervorgetan hatten, ihrer Ämter enthoben worden.

Andere, die nur aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit ohne wissenschaftliche Eignung einen Lehrstuhl zugeschanzt bekommen hatten, blieben jedoch in Amt und Würden.

Ein anderes Beispiel für Kontinuität gab der Historiker Karl Brandi: Er knüpfte an seine Vorlesung aus dem Wintersemester 1944/45 an und behandelte nach "Mittelalter I" nun "Mittelalter II".

Zu den ersten Studenten gehörte der spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Er empfinde "tiefe Dankbarkeit" für das, was die Universität Göttingen damals geleistet habe, sagte er später.

Einige der damaligen Professoren hätten ihn tief beeindruckt. Nicht nur die Professoren hätten ihn geprägt: "Die Freunde, die ich für mein ganzes Leben erworben habe, stammen aus dieser Göttinger Zeit."

Den 70. Jahrestag ihrer Wiedereröffnung feiert die Uni am Montag, 14. September, mit einem Festakt in der Aula, Wilhelmsplatz.

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