Anonyme Alkoholiker

Wenn Bier zum täglichen Begleiter wird

Renate ist Alkoholikerin und seit 18 Jahren trocken. Geholfen haben ihr dabei die Anonymen Alkoholiker, die vor 60 Jahren in Deutschland ihre erste Gruppe gründeten.

Von Britta Schultejans Veröffentlicht:
Eine Flasche Bier, mal zwei - später trank Alkoholikerin Renate Bier schon nach dem Aufstehen.

Eine Flasche Bier, mal zwei - später trank Alkoholikerin Renate Bier schon nach dem Aufstehen.

© Udo Kroener / fotolia.com

MÜNCHEN. "Ich heiße Renate und ich bin Alkoholikerin." Es hat Jahre gedauert, bis Renate diesen Satz aussprechen konnte. "Beim ersten Mal liefen mir die Tränen übers Gesicht."

Heute ist sie 60 Jahre alt - und seit 18 Jahren trocken. Ihren Nachnamen sagt sie nicht, aber inzwischen kann sie mit fester Stimme über ihr Schicksal reden und das ihrer Familie. "Es ging mir so dreckig, dass ich wirklich nicht mehr konnte."

Renate ist eines von rund 25.000 Mitgliedern der Anonymen Alkoholiker (AA) in Deutschland, die in diesem Jahr Jubiläum feiern. Am 1. November 1953 luden US-amerikanische Soldaten per Zeitungsanzeige zum ersten deutschen AA-Treffen in das Hotel Leopold in der Münchner Innenstadt.

Die Anonymen Alkoholiker in Deutschland werden 60 Jahre alt - so alt wie Renate.

So makaber das klingt: Renate ist ein klassischer Fall. Rund 1,3 Millionen Menschen in Deutschland sind nach Angaben der Drogenbeauftragten der Bundesregierung alkoholabhängig, mehr als neun Millionen trinken Alkohol "in gesundheitlich riskanter Form".

Nach Angaben der Al-Anon-Familiengruppen, in denen sich die Angehörigen von Suchtkranken innerhalb der AA zusammentun, hat ein Großteil der Abhängigen Alkoholmissbrauch bereits in der Familie direkt miterlebt.

Alkoholabhängig bis zum Tod

So auch Renate. "Mein Vater hat sehr viel getrunken, meine Schwester hat getrunken", sagt sie. Ihr Vater habe sich schließlich zu Tode gesoffen, Renate war die Letzte, die ihn im Krankenhaus sah.

"Man kann sich nicht vorstellen, wie ein Alkoholkranker endet. Furchtbar." Peter, ebenfalls AA-Mitglied und seit mehr als 30 Jahren trocken, sagt: "Die Krankheit erfasst den ganzen Menschen, Körper, Geist und Seele."

Und trotzdem begann auch Renate zu trinken - nur kurz nach dem Tod ihres Vaters und kurz nach der Geburt ihrer zweiten Tochter. Sie habe immer Bier getrunken, über den Tag verteilt hier und da eins oder mal zwei.

Und dann: "Eines Tages bin ich in der Früh aufgewacht und musste Bier trinken", erinnert sie sich. "Dann begann mein Dilemma und der Kampf." Ab 1987 war sie dann "voll drin". "Am Schluss stand immer ein Glas Bier irgendwo."

"Die sprechen mir aus der Seele"

Sie hatte Ausfälle, konnte manchmal morgens nicht aus dem Bett aufstehen. Einmal sei sie betrunken mit ihrem Auto von der Straße abgekommen - auf dem Rücksitz saßen ihre beiden Töchter.

Irgendwann zog ihr Mann die Reißleine und schickte sie zu den Anonymen Alkoholikern. "Ich habe mich natürlich geniert", sagt sie. Und "hochnäsig ohne Ende" sei sie auch gewesen.

Vier Jahre dauerte es, bis sie die Hilfe der Gruppe zuließ. "Irgendwann habe ich gemerkt: Die sprechen mir aus der Seele." Es habe einfach Klick gemacht.

"Obwohl die nicht getrunken haben, haben die Freude am Leben", habe sie irgendwann verstanden. "Und ich saß da wie das heulende Elend."

Sorge um die Töchter

Seit 1995 ist Renate trocken, doch Angst hat sie noch immer, vor allem um ihre beiden Töchter. Schließlich weiß sie, was es heißt, aus einer "alkoholkranken Familie" zu kommen, wie es bei den AA heißt. "Das hat mir irre Angst gemacht - was wird aus meinen Töchtern?"

Sie habe sehr offen mit ihnen gesprochen, sagt sie. Die jüngere der beiden habe sie einmal gebeten, mit ihr gemeinsam den Film "28 Tage" anzuschauen, in dem Sandra Bullock eine alkoholkranke Frau spielt. "Das war mein Leben, mein Leben im Film."

Beide Töchter trinken heute nicht - oder zumindest nicht bedenklich viel. Aber die Jüngere leide am Border-Line-Syndrom und habe sich eine Zeit lang die Arme aufgeritzt.

"Aber sie kam zu mir und hat mit mir darüber gesprochen, weil sie gesehen hat, dass ich mir auch Hilfe geholt habe", sagt Renate. Das gibt ihr Hoffnung. "Wir haben heute ein ganz tolles Verhältnis." (dpa)

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