DAK-Versorgungsdaten

Coronafolge „Mental-Health-Pandemie“ unter Kindern und Jugendlichen?

Kliniken versorgten 2022 ein Drittel mehr Mädchen im Alter von 15 bis 17 Jahren mit einer Angststörung als im Vor-Pandemiejahr 2019. Das ist Ergebnis einer Sonderauswertung des DAK-Kinder- und Jugendreports.

Matthias WallenfelsVon Matthias Wallenfels Veröffentlicht:
In der Pandemie mussten immer mehr Mädchen im Alter zwischen 15 und 17 Jahre stationär wegen Angststörungen behandelt werden.

In der Pandemie mussten immer mehr Mädchen im Alter zwischen 15 und 17 Jahre stationär wegen Angststörungen behandelt werden.

© sunnychicka / Stock.adobe.com

Hamburg. Die Corona-Pandemie wirft weiter ihren Schatten auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Wie der am Donnerstag veröffentlichte DAK-Kinder- und Jugendreport 2023 offenbart, sind Kinder aller Altersstufen durch anhaltende Krisen weiter stark psychisch belastet.

Vor allem Mädchen sind betroffen. So wurden 2022 ein Drittel mehr Teenagerinnen zwischen 15 und 17 Jahren mit einer Angststörung in Kliniken versorgt als im Vor-Corona-Jahr 2019. Das war ein neuer Höchststand.

Auch die Behandlungszahlen bei Essstörungen und Depressionen nahmen deutlich zu. Für die Analyse wurden nach Kassenangaben Daten von 786.000 Versicherten aus dem Zeitraum 1. Januar 2018 bis 31. Dezember 2022 ausgewertet. Mediziner sähen, so die DAK, wachsende Zukunftsängste bei jungen Menschen und warnten vor einer „Mental-Health-Pandemie“ durch Seelenleiden. DAK-Chef Andreas Storm fordert eine Präventionsoffensive zur Stärkung der psychischen Gesundheit.

Die massive Zunahme von schweren Ängsten und Depressionen bei Mädchen ist ein stiller Hilfeschrei, der uns wachrütteln muss.

Andreas Storm, DAK-Chef

„Die massive Zunahme von schweren Ängsten und Depressionen bei Mädchen ist ein stiller Hilfeschrei, der uns wachrütteln muss“, so Storm. Und ergänzt: „Die anhaltenden Krisen hinterlassen tiefe Spuren in den Seelen vieler junger Menschen, wobei die aktuellen Krankenhausdaten nur die Spitze des Eisbergs sind. Wir müssen offen über die Entwicklung sprechen und den Betroffenen und ihren Familien Unterstützung und Hilfe anbieten.“

Die Politik habe mit übergreifenden Fachtagungen bereits wichtige Impulse gesetzt. „Mental Health Coaches“ an Schulen seien aber nur ein erster Schritt. „Wir brauchen sehr kurzfristig eine breite Präventionsoffensive in Schulen, Vereinen und Verbänden, um die psychische Gesundheit von Mädchen und Jungen zu stärken“, fordert Storm. „Wir dürfen sie und ihre Eltern nicht allein lassen.“

15- bis 17-jährige Mädchen: Drastischer Anstieg bei stationär behandelten Angsstörungen

In den Jahren 2018 bis 2020 lagen die Fallzahlen stationär behandelter Angststörungen laut DAK auf konstantem Niveau. 2021 und 2022 seien die Klinikbehandlungen hingegen deutlich und kontinuierlich angestiegen.

So wurde im vergangenen Jahr laut Report bei jugendlichen Mädchen ein neuer Höchstwert erreicht: Hochgerechnet auf alle Jugendlichen in der Altersgruppe 15 bis 17 kamen 2022 bundesweit rund 6.900 Mädchen mit einer Angststörung ins Krankenhaus. Das entspreche einem Anstieg von 35 Prozent im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019.

Auch bei Essstörungen und Depressionen nahmen die Krankenhausbehandlungen jugendlicher Mädchen zu: So stieg die Zahl der Klinikaufenthalte 2022 im Vergleich zu 2019 bei Essstörungen um über die Hälfte an, bei Depressionen nahmen die Behandlungszahlen um gut ein Viertel zu.

Wir befinden uns mitten in einer Mental-Health-Pandemie, deren Auswirkungen erst nach und nach sichtbar werden.

Professor Christoph Correll, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Berliner Charité

Offensichtlich zeigt sich im Moment aber nur die Spitze des Eisberges, wie Professor Christoph Correll warnt. „Wir befinden uns mitten in einer Mental-Health-Pandemie, deren Auswirkungen erst nach und nach sichtbar werden. Das zeigt sich bereits jetzt besonders im Bereich der Angststörungen und der Essstörungen“, bilanziert der Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Berliner Charité.

Auch die Pädiater sehen eine langfristige Versorgungsherausforderung auf Praxen und Kliniken zukommen. „Die Pandemiesituation hat nachhaltig negative Auswirkungen auf die Lebenszufriedenheit junger Menschen, die sich in Zukunftsangst manifestiert“, resümiert Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ).

Er nimmt Politiker auf allen Ebenen in die Verantwortung: „Hier wirken jedoch sicherlich Faktoren zusammen. Neben der Pandemie sind dies der Ukrainekrieg sowie die Angst um die wirtschaftliche Zukunft und um unseren Planeten Erde. Das muss der Politik klar sein. Es ist Aufgabe der Politik, junge Menschen durch verantwortliches Handeln wieder zukunftssicherer zu machen.“

Alles nur eine Mädchenfrage?

Die Sonderanalyse zeigt laut DAK, dass Mädchen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren häufiger aufgrund psychischer Erkrankungen in Kliniken sind als Jungen. Drei Beispiele verdeutlichen diesen Gender Gap: Von hochgerechnet bundesweit 8.500 Jugendlichen, die mit einer Angststörung stationär behandelt wurden, waren 6.900 Mädchen. 4.300 Jugendliche kamen mit einer Essstörung ins Krankenhaus, davon waren 4.200 weiblich. Von 19.500 Jugendlichen mit einer stationären Behandlung aufgrund von Depressionen waren drei Viertel Mädchen. Bei Schulkindern im Alter zwischen zehn und 14 Jahren zeigt sich ein ähnliches Bild.

„Mädchen neigen eher zu internalisierenden psychischen Störungen als Jungen. Sie ziehen sich beispielsweise mit Depressionen und Ängsten eher in sich zurück. Bei Jungen sind externalisierende Störungen häufiger zu beobachten. Jungen zeigen tendenziell häufiger ein Verhalten, das nach außen gerichtet ist, also zum Beispiel aggressive Verhaltensmuster. Dass dies durch die Pandemiesituation nochmals verstärkt worden ist, ist unbestritten,“ sagt BVKJ-Präsident Fischbach. Und ergänzt: „Depressionen, Angst- und Essstörungen sind häufig in stationärer Behandlung, während gerade die Verhaltens- und emotionalen Störungen im ambulanten Bereich versorgt werden.“

„Wo sind die Jungen?“ fragt Correll beim Blick auf die Auswertung. „Wir müssen die Analyse der ambulanten Daten abwarten, um zu schauen, ob hier steigende Behandlungszahlen von Jungen zu finden sind und bei welchen Erkrankungen. Es liegt aktuell die Vermutung nahe, dass Jungen eventuell durch das Raster fallen und uns verloren gehen.“

Behandlungsdelle als Corona-Effekt möglich

Auf den ersten Blick verwirrt die Datenauswertung, derzufolge 2022 insgesamt weniger Kinder und Jugendliche mit psychischen oder Verhaltensstörungen in Kliniken behandelt wurden als vor der Corona-Pandemie. Werden, so die DAK, alle F-Diagnosen, also Diagnosen, die psychische und Verhaltensstörungen beschreiben, zusammengefasst, ergibt dies 2022 bei Jugendlichen ein Rückgang von 15 Prozent im Vergleich zu 2019. Bei Grundschul- und Schulkindern steht ein Minus von je 23 Prozent.

„Die Begründung für den Rückgang der Behandlungszahlen im Bereich psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen ist wahrscheinlich auf die COVID-Pandemie zurückzuführen. Wir hatten in deutschen Kliniken schlicht weniger Kapazitäten zur Verfügung“, ordnet Correll ein.

Die Sonderauswertung zeige bei Klinikbehandlungen von Jugendlichen, also Mädchen und Jungen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren, immer noch ein hohes Niveau im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie. Werden aber die Jahre 2022 und 2021 betrachtet, sind unterschiedliche Trends auffallend: Während die Behandlungen von Angststörungen 2022 im Vergleich zu 2021 insgesamt weiter zugenommen haben (plus elf Prozent), blieben sie bei Essstörungen nahezu konstant und sanken bei Depressionen (minus sieben Prozent).

Auffallend verringert haben sich bei einem tieferen Blick in die DAK-Zahlen, dass zum Beispiel der Anteil der Jugendlichen mit mindestens einem Krankenhausaufenthalt aufgrund missbräuchlichen Alkoholkonsums massiv zurückgegangen ist und zwar von 14.200 im Jahr 2018 auf 7.800 im vergangenen Jahr.

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