Vorschlag der EU-Kommission

EU-Pharma-Reform: Neue Anreize für innovative Medikamente

Die EU-Kommission will das Arzneimittelrecht völlig neu ordnen: Die Marktexklusivität der Unternehmen soll bis zu zwölf Jahren betragen – aber keineswegs immer. Besondere Anreize soll es für neue Antibiotika geben. Die Kritik der Industrie fällt harsch aus.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:
Blick in das automatisierte Medikamentenlager einer Apotheke: Die EU-Kommission hat weitreichende Vorschläge zur Umgestaltung des EU-Arzneimittelrechts vorgelegt.

Blick in das automatisierte Medikamentenlager einer Apotheke: Die EU-Kommission hat weitreichende Vorschläge zur Umgestaltung des EU-Arzneimittelrechts vorgelegt.

© Jan Woitas/dpa

Brüssel. Die EU-Kommission hat am Mittwoch ihre Pläne für die Überarbeitung des Arzneimittelrechts der EU vorgelegt. Das mehrfach verschobene Regulierungspaket ist bereits im Vorfeld Gegenstand heftiger Kritik gewesen und will mehrere Ziele auf einmal erreichen: Die zeitnahe Verfügbarkeit innovativer Medikamente für Patienten verbessern, die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Pharmastandorts stärken und die Bekämpfung antimikrobieller Resistenzen vorantreiben. Das Vorhaben stellt die erste große Überarbeitung des Arzneimittelrechts seit 2004 dar.

Zugleich soll das Paket auch die Erfahrungen mit der Corona-Pandemie widerspiegeln. So hat die EU-Kommission bereits im November 2020 eine Arzneimittelstrategie mit dem Ziel vorgelegt, die Pharmaproduktion zu einer Säule der europäischen Gesundheitsunion zu machen.

Marktexklusivität von mindestens acht Jahren

Die Kommission setzt in ihrem Vorschlag auf ein gestuftes System von Anreizen: Dafür soll der bisher einheitliche Unterlagenschutz künftig differenziert werden. Die Mindestschutzfrist von acht Jahren kann auf bis zu zwölf Jahre verlängert werden, bisher sind es maximal elf Jahre.

Das gilt indes nur, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind – unter anderem müssen diese neuen Arzneimittel in sämtlichen Mitgliedsstaaten auf den Markt gebracht werden (plus zwei Jahre Schutz) oder sie müssen ungedeckte medizinische Bedarfe befriedigen (plus sechs Monate). Den gleichen Zuschlag gibt es auch, wenn für das neuzugelassene Medikament eine vergleichende klinische Prüfung vorgenommen wurde.

Bei Arzneimitteln gegen seltene Krankheiten soll die reguläre Schutzfrist neun Jahre betragen. Auch hier sind zusätzliche Fristen für die Marktexklusivität geplant, die sich auf bis zu 13 Jahre addieren können. Von diesem differenzierten System des Unterlagenschutzes verspricht sich die Kommission eine um 15 Prozent gesteigerte Zugänglichkeit: Umgerechnet auf Einwohner der EU könnten dadurch bis zu 67 Millionen Menschen zusätzlich in der EU ein neues Arzneimittel erhalten, heißt es.

Weniger Begutachtungs-Zeit für die Arzneiagentur EMA

Der Rechtsrahmen für die Zulassung neuer Medikamente soll vereinfacht und das Verfahren beschleunigt werden. So soll die EU-Arzneimittelagentur EMA für die Zulassung statt 210 nur noch 180 Tage Zeit haben. Die Kommission wiederum müsste demnach künftig innerhalb von 46 statt wie bisher 67 Tagen über eine Zulassung entscheiden.

Sonderregeln sollen für die Bewertung von Arzneimitteln von hohem Interesse für die öffentliche Gesundheit gelten. Hier sollen sogenannte Reallabore die Erprobung neuer Regulierungskonzepte für neuartige Therapien unter realen Bedingungen und unter Verwendung von Versorgungsdaten ermöglichen. Durch Verfahrenserleichterungen soll die durchschnittliche Dauer von derzeit 400 Tagen zwischen Antragstellung und Zulassung in diesem Fall auf rund 150 Tage gesenkt werden.

Antibiotika-Forschung durch Gutschein-System anreizen

Neue Wege der Anreizförderung will die Kommission bei Wirkstoffen gegen resistente Krankheitserreger gehen. Hier ist der Medical Need besonders groß – die wirtschaftlichen Anreize für forschende Unternehmen hingegen gering. Das soll sich durch ein System übertragbarer Gutscheine für den Unterlagenschutz ändern, die Hersteller erhalten sollen, wenn sie beispielsweise neue Antibiotika auf den Markt bringen. Diese Gutscheine können sie entweder selbst einsetzen oder weiterverkaufen.

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Dieser sogenannte Voucher gewährt dem Entwickler des Arzneimittels ein zusätzliches Jahr Unterlagenschutz gegenüber Wettbewerbern. Durch das Gutscheinsystem kann er zusätzliche Einnahmen generieren, ohne dass dafür Fördergelder von den Mitgliedstaaten fließen müssten.

Der Gesundheitspolitiker der EVP-Fraktion im Europaparlament, Dr. Peter Liese, begrüßte diesen Ansatz: „In Europa sterben 33.000 Menschen jährlich, weil Antibiotika nicht mehr wirken. Wir müssen hier dringend etwas tun“, erklärte der Arzt am Mittwoch. Es seien seit 20 Jahren fast keine neuen Antibiotika mehr auf den Markt gekommen. „Wer sagt, der Vorschlag mit dem Voucher sei zu teuer, muss sagen, wieviel ihm die Rettung eines Menschenlebens wert ist“, forderte Liese.

Skeptisches Echo von Herstellerverbänden

Das Echo auf das Pharmapaket aus Verbänden der Hersteller fällt skeptisch bis kritisch aus. Die Unternehmen benötigten für Investitionsentscheidungen Planungs- und Rechtssicherheit, mahnte der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI). „Eine Aufweichung des Unterlagenschutzes und damit eine Reduzierung des Status quo wird bei den Unternehmen jedoch nicht dazu führen, Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln in der EU voranzutreiben“, sagt der BPI-Vorstandsvorsitzende Dr. Hans-Georg Feldmeier.

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Der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) moniert, dass administrative Erleichterungen durch neue Auflagen wieder zunichte gemacht würden. „Besonders problematisch ist die Möglichkeit, bei einer nicht als ausreichend angesehenen Umweltverträglichkeitsprüfung die Zulassung eines Arzneimittels zu widerrufen oder abzulehnen“, sagte BAH-Hauptgeschäftsführer Dr. Hubertus Cranz.

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Für die europäische Vereinigung forschender Arzneimittelhersteller zieht EFPIA-Generaldirektorin Nathalie Moll eine kritische Bilanz des Pharmapakets: „Die Gesamtwirkung der heute vorgelegten Vorschläge schwächt die Rechte am geistigen Eigentum und kann nur zu einem weiteren Rückgang der Forschungsinvestitionen führen, die sich zunehmend in die USA und nach China verlagern. Das Gleiche gilt übrigens für klinische Studien und Produktion.“.

Der Vorschlag der Kommission wird nun vom EU-Parlament und von den Regierungschefs der Mitgliedsstaaten Rat erörtert. Wann das Paket in Kraft treten kann, ist derzeit nicht absehbar.

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