Diabetes

Inklusion funktioniert nicht

Noch immer werden Menschen mit Diabetes gesellschaftlich diskriminiert. Die Regeln der Inklusion funktionieren nicht hinlänglich, kritisieren Experten.

Von Helmut Laschet Veröffentlicht:

Berlin. Entgegen den gesetzlichen Regeln zur Inklusion werden Menschen mit Diabetes in Schule, Beruf und Gesellschaft immer noch diskriminiert. Das stehe auch im Widerspruch zu neueren wissenschaftlichen Leitlinien, kritisieren der Epidemiologe Professor Reinhard W. Holl von der Universität Ulm und Rechtsanwalt Oliver Ebert, Vorsitzender des Ausschusses Soziales der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG,) im aktuellen Jahrbuch „Diabetes 2020“.

Beispiel Schule: In mehreren Gerichtsentscheidungen seit 2017 sei klargestellt worden, dass Kinder mit Diabetes im Bedarfsfall einen Anspruch auf notwendige Assistenzleistungen oder eine Begleitperson haben, wenn dies für die Teilnahme am Schulunterricht oder auch an Klassenfahrten erforderlich ist. Dennoch werde Inklusion regional immer noch sehr unterschiedlich gehandhabt. Das Bundesteilhabegesetz habe für die von Diabetes betroffenen Familien bislang noch nicht die erhofften Entlastungen gebracht.

Kultusminister in der Pflicht

Notwendig seien klare Erlasse der Kultusministerien und präzise Informationen für die Schulen, um die Teilnahme von Kindern und Jugendlichen mit Diabetes am kompletten Unterrichtsangebot und an allen schulischen Aktivitäten zu ermöglichen. Das müsse auch für Aktivitäten in Vereinen, Sportgruppen und anderen Gemeinschaftseinrichtungen gelten.

Hilfen zur Inklusion werden regional sehr unterschiedlich gehandhabt.

Professor Reinhard Holl und Rechtsanwalt Oliver Ebert, Jahrbuch Diabetes 2020

Auch im Berufs- und Arbeitsleben müssten Menschen mit Diabetes mellitus nach wie vor mit Diskriminierungen rechnen. Zwar seien nur noch wenige Berufe aufgrund einer erhöhten Gefahrenlage für Diabetiker verschlossen. Gleichwohl würden mitunter veraltete Eignungsrichtlinien für die Beurteilung der Einsatzfähigkeit verwendet. Dabei seien die Möglichkeiten der modernen Diabetestherapie noch nicht berücksichtigt. Dazu habe die Deutsche Diabetes Gesellschaft „Empfehlungen zur Beurteilung beruflicher Möglichkeiten von Personen mit Diabetes“ erarbeitet. Auskunft über die Arbeitsfähigkeit von Diabetespatienten gebe ferner der Leitfaden für Betriebsärzte zu „Diabetes und Beruf“, der in Zusammenarbeit mit der DDG erstellt worden ist.

Risiko Hypoglykämien

In der Praxis scheinen auch immer wieder Unsicherheiten bei der Beurteilung der Fahrtüchtigkeit von Diabetikern zu bestehen. In diesem Zusammenhang verweist die DDG auf ihre S2e-Leitlinie, nach der keine Belege dafür gefunden worden sind, dass Verkehrsteilnehmer mit Diabetes „generell ein relevant höheres Risiko“ darstellen. Auch die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung der Bundesanstalt für Straßenwesen vom Mai 2018 stellten unmissverständlich klar, dass die Teilnahme am Straßenverkehr mit und trotz Diabetes möglich ist. Auch bestünden keine grundsätzlichen Hindernisse mehr für das Führen von Lastwagen über 3,5 Tonnen. Voraussetzung sei jedoch, dass Hypoglykämien rechtzeitig wahrgenommen werden. Wer innerhalb der letzten zwölf Monate eine so schwere Unterzuckerung hatte, dass er fremde Hilfe benötigte, dürfe in der Regel nicht mehr Auto fahren.

Die Fahrerlaubnis könne aber dann wieder erteilt werden, wenn nachgewiesen werde, dass eine „hinreichende Stabilität der Stoffwechsellage sowie eine zuverlässige Wahrnehmung von Hypoglykämien sichergestellt ist“. Möglich sei dies durch ein Hypoglykämie-Wahrnehmungstraining, durch Therapieänderungen sowie durch vermehrte Blutzuckerselbstkontrollen oder den Einsatz einer kontinuierlichen Glukosemessung.

Schwerbehinderung eher selten anerkannt

Immer schwieriger scheint es für Diabetiker zu werden, Schwerbehinderteneigenschaft und den dazu erforderlichen Grad der Behinderung von 50 Prozent anerkannt zu bekommen. Er werde nur festgestellt bei Menschen, die mindesten vier Insulininjektionen täglich benötigen, wobei die Insulindosis abhängig vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeiten und der körperlichen Belastung selbstständig variiert werden muss. Außerdem müssten Betroffene nachweisen, dass sie neben dem Therapieaufwand durch weitere erhebliche Einschnitte gravierend in ihrer Lebensführung beeinträchtigt sind.

In einem Punkt erkennen die Autoren aber auch einen signifikanten Fortschritt und Erleichterungen für Diabetiker an. So seien Systeme zum kontinuierlichen Glukosemonitoring, die drohende Unter- oder Überzuckerungen signalisieren, in den-Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen worden. Damit könnten soziale Einschränkungen kompensiert werden.

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