Selbstvermessung

Medizinische Verbände warnen vor „Online-Versorgern“ mit orthopädischen Einlagen

Über das Einmessen orthopädischer Schuheinlagen ist ein großer Streit entbrannt. Mehrere orthopädische Fachgesellschaften warnen davor, dass Abdrücke von Versicherten gemacht werden, ohne dass Ärzte oder Orthopädietechniker einbezogen werden.

Matthias WallenfelsVon Matthias Wallenfels Veröffentlicht:
Beim Einmessen orthopädischer Schuheinlagen ist Präzision gefragt. Mehrere orthopädische Fachgesellschaften warnen davor, dass Abdrücke von Versicherten ohne das Einbinden eines Arztes oder Orthopädietechnikers gemacht werden.

Über Verträge zweier großer Kassen mit Anbietern industrieller orthopädischer Einlagen inklusive Selbstvermessung durch die Versicherten und Direktbelieferung ist ein großer Streit entbrannt.

© Zoonar/picture alliance

Berlin/Wuppertal/Hamburg. Online-Serviceangebote sind ein Zukunftsfeld, das Krankenkassen und deren Versicherten viel Potenzial verspricht. Die Barmer hat mit einem industriellen Anbieter orthopädischer Einlagenversorgungen einen Vertrag geschlossen, im Rahmen dessen die Versicherten ihren Einlagenbedarf selbst mit Hilfe einer KI-basierten Lösung bestimmen sollen. Die fertigen Einlagen werden demnach per Kurier zugestellt.

Das ruft nun mehrere Fachgesellschaften auf den Plan mit einer gemeinsamen Stellungnahme auf den Plan, die der „Ärzte Zeitung“ vorliegt. Darin heißt es: „Die individuelle und fachlich versierte Betreuung durch Arzt und Orthopädie(schuh)techniker ist bei der Versorgung mit Hilfsmitteln zwingend erforderlich. Dies gilt auch und insbesondere bei der Versorgung von Fußproblemen mit Einlagen. Online-Einlagen ohne die individuelle Druckabnahme, Herstellung, Anpassung und Abnahme durch Arzt und Orthopädie(schuh)techniker sind in dieser Hinsicht nicht geeignet und gefährden den Behandlungserfolg und den Patienten.“

Die Verfasser der Stellungnahme

Die gemeinsame Stellungnahme haben unterzeichnet: Die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU), die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC) und deren Beratungsausschusses für das Handwerk Orthopädieschuhtechnik, der Berufsverband für Orthopädie und Unfallchirurgie (BVOU), die Deutsche Gesellschaft für interprofessionelle Hilfsmittelversorgung (DGIHV) und der Zentralverband für Orthopädieschuhtechnik (ZVOS).

Orthopädietechniker: Kassen gefährden Gesundheit ihrer Versicherten

Der Bundesinnungsverband Orthopädie-Technik (BIV-OT) nutzt die Stellungnahme als Steilvorlage für seine Kritik an dem systematischen Ausbooten seiner Zunft. „Leider geben uns die medizinischen Fachgesellschaften Recht. Es ist erschreckend, welchem Risiko Krankenkassen ihre Versicherten aussetzen. Gesundheitliche Schäden werden bewusst in Kauf genommen. Bei einer Versorgung im Versand und per Selbstvermessung durch den Versicherten geht es nicht um innovative Versorgungskonzepte, schon gar nicht um digitale Innovationen, sondern nur um eins: Kostensenkung pur“, echauffiert sich BIV-OT-Präsident Alf Reuter.

Als Indikationsbeispiele, die bei fehlender individueller Untersuchung und Kontrolle zu Gesundheitsschäden führen können, führen die Fachgesellschaften unter anderem die Achillodynie, Hallux rigidus, den Hohlfuß, den Knick-Senkfuß, die Metatarsalgie, die Plantarfasciitis, die Varusgonarthrose, angio-neuropathische Fußveränderungen in Kombination mit anderen Fußdeformitäten sowie auch Zehendeformitäten an.

Gesellschaften: Versorgung von Diabetikern ein No-Go!

„Völlig inakzeptabel und jeder nationalen und internationalen Leitlinie widersprechend, wäre eine Versorgung bei Hochrisikopatienten“ zum Beispiel mit diabetischem Fußsyndrom (DFS), diabetes-adaptierten Fußbettungen sowie Diabetesschutzschuhen ohne die Anwesenheit eines überwachenden Orthopädie(schuh)- technikers, heißt es in der Stellungnahme. „Hier handelt es sich immer um Patienten mit einem extrem hohen Risiko für eine Reulzeration bzw. ggf. folgende Minor/Majoramputation.“

KI und Handy sollen für Abdruck reichen

Der Hamburger Kassenpartner und Digitalversorger craftsoles preist seine auf Basis von Technologien wie Künstlicher Intelligenz (KI) und Maschinellem Lernen entwickelte Software.

„Schon heute lesen wir die Druckprofile aus dem Abdruckset digital aus und arbeiten an einer Möglichkeit, die es Kunden erlaubt, die Abdrücke zu Hause per Handy einzuscannen. Der Umwelt zuliebe, sparen wir dadurch in Zukunft den Rückversand des Abdrucksets ein und vereinfachen den Versorgungsprozess zusätzlich,“ erläutert Simon Maass, Geschäftsführerin der meevo Healthcare GmbH, zu der craftsoles gehört.

So einfach geht es nach Ansicht der Fachgesellschaften allerdings auch wieder nicht, wenn medizinisch mit Hilfsmitteln sinnvoll versorgt werden solle. Hierzu bedürfe es zwingend des Orthopädiehandwerkers sowie des behandelnden Arztes – zum Beispiel für die Überprüfung der korrekten Adressierung des Funktionsdefizites oder der Fehlform, die Kontrolle der Passform bei der Abgabe, das Einpassen in das patientenindividuelle Schuhwerk oder die Kontrolle von Passform und genügendem Platz für den Fuß im Schuh, einschließlich einer Gangbildkontrolle.

Bei der Online-Versorgung entfalle zudem die Möglichkeit einer direkten Korrektur des Hilfsmittels durch den Techniker – dies führe zu einer wesentlichen Verschlechterung der bisherigen Versorgungspraxis.

Barmer: Neuer Versorgungsweg bei gleicher Qualität

Die Barmer lässt die Kritik an ihrem neuen Versorgungsmodell nicht auf sich sitzen. Auf Nachfrage der „Ärzte Zeitung“ hieß es am Dienstag: „Der Vertrag mit der Firma craftsoles zur Versorgung mit orthopädischen Einlagen ermöglicht unseren Versicherten, alternativ zum traditionellen Weg eine innovative und digitale Versorgung mit hochwertigen, maßgefertigten orthopädischen Einlagen.“

Diese würden von Orthopädietechnikern von Hand in der hauseigenen Meisterwerkstatt des Innungsbetriebes „Sanitätshaus Meevo“ in Hamburg angefertigt. Es gälten alle im Hilfsmittelverzeichnis des GKV-Spitzenverbandes festgelegten Qualitätsstandards gemäß § 139 SGB V, die auch für den stationären Handel verbindlich sind.

„Die Einlagen werden aus hochwertigem Material gefertigt und auf jeden Fuß individuell abgestimmt. Unterschiede zu Einlagen, die im stationären Handel gefertigt und abgegeben werden, bestehen nicht. Dies bestätigen uns auch unsere Versicherten, die wir im Rahmen eines Pilotprojektes vor Vertragsabschluss mit craftsoles über ihre Erfahrungen befragt haben“, so die Barmer.

Erstmals standardisierte Zufriedenheitsabfrage

Laut Barmer haben zahlreiche Versicherte vor Vertragsabschluss die Einlagen von craftsoles im Rahmen eines Pilotprojektes umfangreich getestet – und zwar Versicherte, die in der Vergangenheit bereits orthopädische Einlagen über die herkömmlichen Versorgungswege erhalten haben.

Eine weitere Besonderheit an dem Vertrag mit craftsoles sei, dass alle Patienten routinemäßig nach jeder Versorgung rund 14 Tage nach Erhalt der Einlagen nach ihrer Zufriedenheit befragt würden. „Diese standardisierte Abfrage zur Patientinnen- und Patientenzufriedenheit wurde im Bereich der orthopädischen Einlagen erstmals vertraglich fest vereinbart. Sie sind bisher nicht Bestandteil der Verträge mit dem stationären Handel“, ergänzt die Kasse.

Die Kritik des BIV-OT überrasche umso mehr, als viele Betriebe im stationären Handel bereits ebenfalls ein Online-Bestellverfahren analog des Verfahrens von craftsoles anböten – allerdings nur für Privatkunden und Selbstzahler. Der Vertrag mit craftsoles ist laut Barmer seit 1. August dieses Jahres in Kraft. „Aufgrund der noch kurzen Vertragslaufzeit haben wir noch keine Zahlen dazu, wie viele Versicherte bereits durch craftsoles versorgt wurden“, heißt es.

TK könnte ebenfalls demnächst starten

Entgegen der Behauptung der Fachgesellschaften, hat die TK noch keinen Vertrag zur online-gestützten Versorgung mit orthopädischen Einlagen geschlossen. Auf Anfrage der „Ärzte Zeitung“ hieß es aber am Dienstag, man habe über die einschlägigen Kanäle „öffentlich bekanntgegeben, dass wir Interesse an solchen onlinebasierten Versorgungen im Bereich der medizinischen Schuheinlagen haben. Sowohl potenzielle Vertragspartner als auch Verbände werden in der Veröffentlichung dazu aufgefordert, Angebote und Konzepte einzureichen.“

Die TK verzeichne sowohl aus dem Kreis ihrer Versicherten als auch von Seiten der Leistungserbringer ein steigendes Interesse an diesem zusätzlichen Versorgungsweg. „Die Bekanntmachung dient dazu, die Machbarkeit und Grenzen der neuen technischen Möglichkeiten auszuloten. Wir haben dort ausdrücklich klargestellt, dass die vorgesehene Vereinbarung die bestehenden Versorgungsverträge nicht ersetzen soll, sondern als zusätzlicher Versorgungsweg geplant ist“, so die TK.

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