Spätabtreibung - welche Beratung braucht eine Frau, die ein behindertes Kind erwartet?

Niemand soll sich in Deutschland dafür rechtfertigen müssen, ein Kind mit Behinderung großzuziehen. Zumindest in dieser Frage waren sich alle Parlamentarier in der gestrigen Bundestags-Debatte um Spätabtreibungen nach medizinischer Indikation einig.

Von Bülent Erdogan Veröffentlicht:
1. Lesung im Bundestag - die Entscheidung fällt wohl erst im April 2009.

1. Lesung im Bundestag - die Entscheidung fällt wohl erst im April 2009.

© Foto: dpa

Mitunter hätte man im Plenum die berühmte Stecknadel fallen hören können - äußerst diszipliniert diskutieren die Abgeordneten des Bundestags an diesem Donnerstag ein heikles Thema: Es geht um so genannte Spätabtreibungen nach medizinischer Indikation.

Dahinter verbergen sich Abbrüche von Schwangerschaften nach der 22. Woche, wenn ein Arzt wegen der Behinderung eines Kindes eine gesundheitsgefährdende seelische oder körperliche Belastung der Frau diagnostiziert. Im vergangenen Jahr war dies 229 Mal der Fall.

Knapp zwei Stunden nehmen sich die Parlamentarier für diese Frage Zeit, die mit Blick auf zuletzt insgesamt rund 117 000 Abtreibungen zahlenmäßig auf den ersten Blick eher wie eine Randnotiz anmutet, ethisch aber Grundfeste der Gesellschaft berührt: Wie viel Platz ist in Deutschland noch für behinderte Menschen? Und führt die Diagnose behindertes Kind hierzulande zu einem Automatismus, an dessen Ende die Entscheidung gegen die Geburt des behinderten Kindes steht?

Als erster Redner der Debatte tritt der CSU-Politiker Johannes Singhammer ans Rednerpult. Er ist Initiator eines vor allem von Unionskollegen unterstützten Gesetzentwurfs, der zwischen Beratung, Befund und letztlicher Feststellung einer medizinischen Indikation durch den Arzt eine "Bedenkzeit" von drei Tagen sowie eine Beratungs- und Dokumentationspflicht des Arztes einführen will.

"Wir müssen behindertes Leben besser schützen und wollen daher den Automatismus zwischen Diagnose und Abbruch vermeiden", wirbt er um Unterstützung. Es dürfe keinen Rechtfertigungszwang für die Eltern geben, sich für ein Kind mit Behinderung zu entscheiden, mahnt Singhammer, der die Diskussion mit seinem Entwurf erst ins Rollen gebracht hatte.

Fehlgebildeter Fötus - für Frauen nach der Diagnose ein Schock.

Fehlgebildeter Fötus - für Frauen nach der Diagnose ein Schock.

© Foto: medicalpicture

Frauen brauchten keine staatlich verordnete Wartezeit von drei Tagen, meint dagegen die SPD-Politikerin Christel Humme. "Was Frauen wirklich hilft, ist ein zusätzliches, besseres und frühzeitiges Beratungs- und Unterstützungsangebot." Die von Singhammer geforderten gesetzlichen Regelungen führten nicht dazu, die gesellschaftliche Einstellung zu behindertem Leben positiv zu verändern, meint sie stellvertretend für die Mehrheit ihrer Fraktion.

Wie unterschiedlich das Meinungsbild im Plenum an diesem Tag über die Fraktionsgrenzen hinweg ist, wird anschließend mit der Rede von Hummes Parteifreundin Kerstin Griese deutlich. Sie spricht für 39 Sozialdemokraten und sieben Grüne, die einerseits eine Bedenkzeit einführen wollen, die von Singhammer geplante genaue Dokumentation der Abtreibungsgründe aber ablehnen. Die Beratung müsse zudem ergebnisoffen erfolgen, so Griese.

Für ein "Recht auf Nichtwissen" tritt danach Ina Lenke von der FDP ein. Zwei Drittel ihrer Fraktion wollen zwar wie Singhammer und Griese eine Bedenkzeit einführen, einen "Beratungsmarathon" für Schwangere aber verhindern.

Eine Sonderrolle in der Debatte nehmen die Abgeordneten der Linken ein. Ihnen ist bereits Paragraf 218 ein Dorn im Auge. Die von Teilen des Hauses geplanten Änderungen am Schwangerschaftskonfliktgesetz lehnt Kirsten Tackmann als weitere Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts der Frau ab. Stattdessen fordert die Linken-Politikerin eine kostenlose und flächendeckende medizinische Beratung der Schwangeren.

Lesen Sie dazu auch den Gastkommentar: Dr. Frank-Ulrich Montgomery: Es geht um Hilfe für Frauen

Lesen Sie dazu auch: Mehr Beratung der Frau: ja! Aber ist auch Zwang nötig? Was Parlamentarier trennt und eint Abtreibungsrecht - was derzeit gilt

Die Debatte zur Spätabtreibung - Auszüge aus den Bundestagsreden: Wir sind gegen die Beratungspflicht Es geht um umfassende Hilfe Es darf keinen Automatismus geben! Die Beratung soll ergebnisoffen sein Frauen sollen auch "Nein" sagen können Ist jede Untersuchung wirklich nötig? Mehr Unterstützung statt mehr Druck

Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema

Welchen Spielraum es gibt

Patienten rechtssicher ablehnen: So geht’s

Das könnte Sie auch interessieren
Glasglobus und Stethoskop, eingebettet in grünes Laub, als Symbol für Umweltgesundheit und ökologisch-medizinisches Bewusstsein

© AspctStyle / Generiert mit KI / stock.adobe.com

Klimawandel und Gesundheitswesen

Klimaschutz und Gesundheit: Herausforderungen und Lösungen

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Ein MRT verbraucht viel Energie, auch die Datenspeicherung ist energieintensiv.

© Marijan Murat / dpa / picture alliance

Klimawandel und Gesundheitswesen

Forderungen nach Verhaltensänderungen und Verhältnisprävention

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Ein Dialogforum von Fachleuten aus Gesellschaft, Gesundheitspolitik und Wissenschaft

© Frankfurter Forum für gesellschafts- und gesundheitspolitische Grundsatzfragen e. V.

Das Frankfurter Forum stellt sich vor

Ein Dialogforum von Fachleuten aus Gesellschaft, Gesundheitspolitik und Wissenschaft

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Kommentare
Sonderberichte zum Thema
Mehr als ein oberflächlicher Eingriff: Die Krankenhausreform verändert auch an der Schnittstelle ambulant-stationär eine ganze Menge.

© Tobilander / stock.adobe.com

Folgen der Krankenhausreform für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte

Die Klinikreform bringt Bewegung an der Schnittstelle zwischen Praxen und Krankenhäusern

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: der Deutschen Apotheker- und Ärztbank (apoBank)
Detailansicht eines Windrades: Bringt eine ökologisch nachhaltige Geldanlage auch gute Rendite? Anleger sollten auf jeden Fall genau hinschauen.

© Himmelssturm / stock.adobe.com

Verantwortungsbewusstes Investment

„Nachhaltig – das heißt nicht, weniger Rendite bei der Geldanlage!“

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: der Deutschen Apotheker- und Ärztebank (apoBank)
Protest vor dem Bundestag: Die Aktionsgruppe „NichtGenesen“ positionierte im Juli auf dem Gelände vor dem Reichstagsgebäude Rollstühle und machte darauf aufmerksam, dass es in Deutschland über drei Millionen Menschen gebe, dievon einem Post-COVID-Syndrom oder Post-Vac betroffen sind.

© picture alliance / Panama Pictures | Christoph Hardt

Symposium in Berlin

Post-COVID: Das Rätsel für Ärzte und Forscher

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: vfa und Paul-Martini-Stiftung
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Jetzt neu jeden Montag: Der Newsletter „Allgemeinmedizin“ mit praxisnahen Berichten, Tipps und relevanten Neuigkeiten aus dem Spektrum der internistischen und hausärztlichen Medizin.

Top-Thema: Erhalten Sie besonders wichtige und praxisrelevante Beiträge und News direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

„ÄrzteTag“-Podcast

Wie erkenne ich Schmerzen bei Menschen mit Demenz, Professorin Miriam Kunz?

Systematisches Review und Metaanalyse

Antidepressiva absetzen: Welche Strategie ist am wirksamsten?

Lesetipps
Übersichtsarbeit: Wie wirken Hochdosis-, rekombinante und mRNA-Vakzinen verglichen mit dem Standardimpfstoff?

© Sasa Visual / stock.adobe.com

Übersichtsarbeit zu Grippeimpfstoffen

Influenza-Vakzinen im Vergleich: Nutzen und Risiken

Serotoninkristalle, die ein Muster ergeben.

© Michael W. Davidson / Science Photo Library

Für wen passt was?

Therapie mit Antidepressiva: Auf die Nebenwirkungen kommt es an