Gesetzliche Krankenversicherung

Welches Reform-Potenzial steckt in Wahltarifen? Die Bilanz fällt bescheiden aus

Die Regierungskoalition sucht verzweifelt nach attraktiv anmutenden Reformperspektiven für die GKV. Mehr Wettbewerb – etwa durch einen „Basistarif“ – klingt gut. Doch Wahltarife fristen ein Nischendasein – aus guten Gründen.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:
Einfach per Wahltarif zum Privatpatienten werden – das hat seinen Preis. Geht ein solcher Tarif noch konform mit den Grundprinzipien der GKV? Das Bundesamt für Soziale Sicherung hat daran Zweifel.

Einfach per Wahltarif zum Privatpatienten werden – das hat seinen Preis. Geht ein solcher Tarif noch konform mit den Grundprinzipien der GKV? Das Bundesamt für Soziale Sicherung hat daran Zweifel.

© Frank H. / stock.adobe.com

Berlin. Die Zeichen stehen auf Wettbewerb. Unter den Reformoptionen, die derzeit in den Regierungsfraktionen gewälzt werden, steht eine Intensivierung des Wettbewerbs im Gesundheitswesen weit oben.

Mehr Wahlmöglichkeiten, das lässt sich – so die Idee – den Krankenversicherten vergleichsweise gut verkaufen. Wenn dabei die Ausgaben in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sinken – umso besser.

Tino Sorge (CDU), parlamentarischer Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium, machte vor wenigen Wochen einen ersten Aufschlag mit der Idee für einen „Basistarif“ in der GKV. Dessen Ausgestaltung umriss der CDU-Politiker nur vage, aber das Thema war gesetzt.

Dass Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) den Vorschlag skeptisch aufnahm und umgehend in ihre „Finanz-Kommission Gesundheit“ delegierte, tat dem Medienecho keinen Abbruch.

Gesetzgeber hat Wahltarife 2007 stark ausgeweitet

Dabei gibt es bereits seit rund 20 Jahren Erfahrungen mit Wahltarifen in der GKV, und die sind sehr gemischt. Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) sind diese Tarife seit April 2007 stark ausgeweitet worden.

Wahltarife, die bisher nur für freiwillig Versicherte angeboten werden durften, sind seitdem auch für Pflichtmitglieder geöffnet. Manche Wahltarife müssen Krankenkassen sogar verpflichtend anbieten – so etwa den zur hausarztzentrierten Versorgung (§ 73b SGB V), für besondere Versorgungsformen (Paragraf 140a SGB V) und zum Krankengeld für Selbstständige (Paragraf 53 Absatz 6 SGB V).

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Weitere Wahltarife können die Kassen freiwillig per Satzungsleistung anbieten. Genannt im Gesetz sind Angebote zum Selbstbehalt (Paragraf 53 Absatz 1 SGB V), zur Beitragsrückerstattung (oft „Prämienzahlung“ genannt; Absatz 2), zur Kostenerstattung (Absatz 4) und zur Teilkostenerstattung (Absatz 7).

Beim Selbstbehalt verpflichten sich Mitglieder, im Krankheitsfall einen Teil der Behandlungskosten selbst zu tragen. Als Gegenleistung bekommen sie eine Prämie. Bei der Beitragsrückerstattung erhält der Versicherte – in Abhängigkeit von der Ausgestaltung des Wahltarifs – Geld zurück, wenn er oder sie ein Jahr lang keine Leistungen in Anspruch nimmt. Vorsorgeuntersuchungen sind dabei ausgenommen.

Wenn das GKV-Mitglied zum Selbstzahler wird

Beim Wahltarif mit Kostenerstattung wird dem GKV-Mitglied - wie in der PKV - nach der Inanspruchnahme einer Leistung eine Rechnung gestellt, die er oder sie dann bei der Krankenkasse einreicht. Das Mitglied wird dadurch zum Selbstzahler.

Dabei kann die Kostenerstattung auf ausgewählte Versorgungsbereiche begrenzt werden. Die Höhe der Erstattungen ist in der Regel auf die Kosten begrenzt, die eine Krankenkasse als Sachleistung zahlen würde.

Ein Beispiel: Die Techniker Krankenkasse zahlt den TK-Mitgliedern im Kostenerstattungstarif einen pauschalen Erstattungsbetrag. Für die Arzneimittelversorgung beträgt er 65 Prozent, für die Heilmittelversorgung 45 Prozent und für die ärztliche Behandlung 25 Prozent der Rechnungsbeträge, die bei „normalen“ GKV-Versicherten berücksichtigt würden.

In allen diesen Fällen handelt es sich Differenzierungen des Leistungsumfangs der GKV, die Beitragsdifferenzierungen nach sich ziehen. Es geht somit um eine gezielte Einschränkung oder Ausweitung von Versicherungsleistungen. So wie etwa beim Selbstbehalt, bei dem ein direkter Verzicht auf Versicherungsleistungen erfolgt.

Der Gesetzgeber verknüpfte mit den größeren Wahlfreiheiten im GKV-WSG weitreichende Erwartungen. Die Beziehungen unter anderem zwischen Versicherten und Krankenkassen sollten „transparenter, flexibler und noch stärker wettbewerblich ausgestaltet werden“, hieß es. „Qualität und Effizienz der medizinischen Versorgung werden so deutlich verbessert“, so die Hoffnung im Jahr 2007.

Kostenerstattung: „stärkt die Wettbewerbsposition gegenüber der PKV“

Die Wahltarife sollen einerseits Verhaltensanreize für eine gesündere Lebensführung setzen, mit dem Ziel, Leistungen nicht in Anspruch zu nehmen. Andere Angebote wurden insbesondere aufgelegt mit der Absicht, die Gruppe der freiwillig Versicherten in der GKV halten – beispielsweise der Wahltarif zur Kostenerstattung.

Ausdrücklich formuliert der Gesetzgeber im GKV-WSG: „Diese Tarifmöglichkeit stärkt die Wettbewerbsposition der gesetzlichen Krankenkassen gegenüber der privaten Krankenversicherung.“

Insbesondere Wahltarife, die Elemente der Privaten Krankenversicherung in die GKV transportieren, sind von Anbeginn an kritisch kommentiert worden. Denn damit halten systemfremde Elemente Einzug in die GKV: Konstitutiv für die gesetzlichen Kassen sind beispielsweise das Umlageverfahren oder das Solidarprinzip.

Mit den Wahltarifen hingegen werden Elemente des Äquivalenzprinzips in die GKV importiert. Wer sollte einen Selbstbehalt wählen, wenn nicht (junge) Gesunde?

Wahltarife, so die Kritik, gehen auf Kosten der Solidargemeinschaft und führen zu einer „Risikoentmischung“ unter den GKV-Mitgliedern. Der Bundesfinanzhof sprach in einem Urteil, das sich um einen Selbstbehaltstarif drehte, denn auch von einer „Wette um niedrige Gesundheitskosten“, die der Versicherte mit seiner Krankenkasse abschließe (Urteil vom 6. Juni 2018, SR 41/17).

Der Gesetzgeber hat zugleich durch kleinteilige Vorgaben versucht, Effekte der (Selbst-)Selektion durch diese Tarife zu begrenzen und so das Vorteilshopping einzudämmen.

So beträgt etwa die Mindestbindungsfrist bei Selbstbehaltstarifen drei Jahre. Auf diese Weise soll ein Wechsel zwischen Tarifen je nach Erwartung der Inanspruchnahme von Leistungen verhindert werden.

Beim Selbstbehalt gelten zudem Kappungsgrenzen, die dafür sorgen sollen, dass dieser in einem angemessenen Verhältnis zur Prämienrückzahlung steht. Theoretisch sind Krankenkassen zudem verpflichtet, die Aufwendungen für jeden Wahltarif aus Einsparungen und Effizienzsteigerungen zu finanzieren.

Selbstbehalt-Tarif mit den meisten Teilnehmern

Aufs erste besehen hört sich die Zahl der Teilnehmer an Wahltarifen beeindruckend an: Rund 16,78 Millionen sind es im vergangenen Jahr gewesen (siehe nachfolgende Tabelle).

Allerdings entfallen davon allein knapp 16,2 Millionen auf Tarife für besondere Versorgung, die im Übrigen allen GKV-Versicherten – nicht nur zahlenden Mitgliedern – offen stehen. Deutlich anders sieht es bei den sogenannten monetären Wahltarifen aus.

Hier verzeichnet mit Abstand der Wahltarif Selbstbehalt mit 488.560 GKV-Mitgliedern im Vorjahr die meisten Teilnehmer. Sechsstellige Besetzungszahlen hat auch noch der Tarif Beitragsrückerstattung mit 151.155 Teilnehmern.

Für das Krankengeld für Selbstständige entschieden sich im Vorjahr 66.110 Mitglieder. Dagegen nutzen nur 1.382 Mitglieder den Tarif Kostenerstattung, bei der Teilkostenerstattung waren es 12.765.

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Im Ergebnis bleiben Wahltarife angesichts von rund 74 Millionen GKV-Versicherten eine Nische: Nach Angaben des Bundesamts für Soziale Sicherung (BAS) addierten sich im Jahr 2024 die wahltarifbedingten Ausgaben – inklusive Prämienzahlungen, Kostenerstattungen, Krankengeld und Verwaltungskosten – auf 168 Millionen Euro. Das sind 0,05 Prozent der GKV-Gesamtausgaben.

Auf Anfrage der Ärzte Zeitung erklärt die Bonner Behörde, die Kassen nutzten das Wettbewerbsinstrumente der Wahltarife „rege“, wenn auch in unterschiedlichem Umfang. Allerdings wirke der höhere verwaltungstechnische Aufwand auf kleinere Kassen „zum Teil abschreckend“, so das BAS.

Auch Platzhirsche wie die TK bitten Mitglieder für den Mehraufwand bei der Verwaltung zur Kasse: Beim Kostenerstattungstarif beispielsweise zieht die TK dem Mitglied fünf Prozent vom ausgezahlten Betrag für zusätzlichen Verwaltungsaufwand ab.

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Seit 2007 haben Gerichte besonders kreative Auslegungen von Wahltarifen stillgelegt. So urteilte das Bundessozialgericht 2019, ein Wahltarif Kostenerstattung, der als Extra einen Auslandskrankenschutz vorsah, sei unzulässig (Aktenzeichen B 1 KR 34/18 R).

Aber auch der Gesetzgeber hat Vorgaben nachgeschärft: Seit April 2020 sind alle Schritte, die der Risikoselektion dienen oder diese unmittelbar oder mittelbar fördern, unzulässig (Paragraf 4a Absatz 1 Satz 3 SGB V). Das BAS hat auf dieser Grundlage Wahltarife für Azubis und Studierende beanstandet, wenn diese im Vergleich zu Geringverdienern günstigere Prämien vorsahen.

BAS hält einge Wahltarife für „potenziell systemwidrig“

Dennoch bezeichnet die Kassenaufsicht Wahltarife zum Selbstbehalt und zur Nichtinanspruchnahme von Leistungen als „potenziell systemwidrig“ – wegen des Risikos der finanziellen Umverteilung von kranken zu gesunden Versicherten, teilt das BAS der Ärzte Zeitung mit.

Hinzu kommt, dass die Wahltarife ein aufwändiges versicherungsmathematisches Begutachtungsverfahren durchlaufen müssen und bei geringen Teilnahmezahlen allein schon deshalb unwirtschaftlich sein können.

Zudem sei diese Begutachtung, wenn sich wenige Versicherte einschreiben, tendenziell wenig belastbar: „Es hängt im Wesentlichen vom Zufall ab, ob ein Tarif gerade Überschüsse oder Defizite verursacht“, schreibt die Behörde. Verluste aber müssten letztlich immer von der Solidargemeinschaft getragen werden.

Und was ist mit der Hoffnung, Wahltarife könnten die GKV in Konkurrenz zur PKV stärken? Hierzu hat die Kassenaufsicht nach eigenen Angaben keine Erkenntnisse. Doch bei der geringen Nachfrage von GKV-Mitgliedern, so das BAS, „liegt die Annahme nahe, dass sich nur geringe Auswirkungen auf das System im Verhältnis zur PKV ergeben“.

„Solidarische Wettbewerbsordnung“ in der GKV

Der Wettbewerb war nie ein erstrangiges Ziel der Politik, sondern eher ein Nebenprodukt. Am Anfang stand der mythenumrankte Lahnsteiner-Kompromiss, der federführend von Horst Seehofer (CSU) und Rudolf Dressler herbeigeführt wurde. Mit dem daraufhin Ende 1992 beschlossenen Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) wurden die Kassenwahlrechte von Arbeitern und Angestellten ab 1996 angeglichen.

Wettbewerb in der GKV ergab sich als Folge dieser Entscheidung, war aber nie begleitet von einem ordnungspolitisch fundierten Wettbewerbskonzept der damaligen Regierungskoalition aus Union und FDP. Elemente des Wettbewerbs (Risikostrukturausgleich, Kassen-Wahlrechte) standen im GSG unvermittelt neben staatlichen Regulierungsinstrumenten wie etwa einer Budgetierung der Leistungsausgaben, die sich an der Entwicklung der Grundlohnsumme orientierte.

Erst im Nachgang führte der Versuch, diese disparaten Elemente zusammenzuführen, zu einem Grundsatzpapier, das 1994 von der Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Krankenkassen herausgegeben wurde („Solidarische Wettbewerbsordnung als Grundlage für eine zukunftsorientierte Krankenversicherung“).

Freilich wurde beim ursprünglichen Konzept das Faktum der Marktspaltung in der GKV zu wenig beachtet: Etwa 20 Prozent der Versicherten verursachen rund 80 Prozent der Kosten – die übrigen Versicherten ziehen vergleichsweise wenig individuellen Nutzen auch aus einem qualitativ hochwertigen Versorgungsangebot.

Die Konsequenz: Preismodelle, die sich wie Wahltarife am individuellen Nutzen orientieren, adressieren fast ausschließlich preissensible gesunde Versicherte. Mit „Effizienz“ oder der Idee von Wettbewerb als einem Suchprozess für die bestmögliche Versorgung haben Wahltarife wenig gemein. (fst)

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