Wie viele Fesseln erträgt die ärztliche Therapiefreiheit?

Kontroverse Meinungen zum Grad der ärztlichen Therapiefreiheit prallten am Dienstag auf einem gemeinsamen Diskussionsabend des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) und der "Ärzte Zeitung" in Berlin aufeinander.

Von Bülent Erdogan Veröffentlicht:
Therapiefreiheit in Gefahr? Dr. Stephan Kewenig (Polikum), Jens Spahn (CDU), Helmut Laschet ("Ärzte Zeitung"), Cornelia Yzer (VFA), Dr. Klaus Bittmann (NAV), Dr. Knud Gastmeier (Anästhesist) diskutierten.

Therapiefreiheit in Gefahr? Dr. Stephan Kewenig (Polikum), Jens Spahn (CDU), Helmut Laschet ("Ärzte Zeitung"), Cornelia Yzer (VFA), Dr. Klaus Bittmann (NAV), Dr. Knud Gastmeier (Anästhesist) diskutierten.

© Fotos: Bauchspieß

Unter dem Motto "Therapiefreiheit versus Kostendruck - Die Fesseln des deutschen Gesundheitssystems" diskutierten Vertreter aus Ärzteschaft, Industrie und Politik über die Situation in der GKV-Arzneimittelversorgung. Hintergrund ist eine aktuelle Studie zur Versorgungslage und Therapiefreiheit im GKV-System. Danach sehen sich fast drei Viertel der Ärzte in ihrer Entscheidungsfreiheit eingeschränkt, jeder zweite glaubt, dass therapeutische Innovationen beim Patienten ankommen (wir berichteten).

VFA-Hauptgeschäftsführerin Cornelia Yzer warf der großen Koalition vor, den Ordnungsrahmen des Gesundheitssystems bislang nur auf Kostendämpfung hin ausgerichtet zu haben. Die Qualität der Versorgung sei dabei in den Hintergrund gerückt. Es gelte, von dieser Ausrichtung wegzukommen. Statt immer neue Gremien auf Bundesebene zu schaffen, sollte die Nutzenbewertung von Arzneimitteln dezentral durch die Ärzte vor Ort und ihre Expertise erfolgen. "Das ist der Weg, den wir in Zukunft gehen müssen."

Spahn: Ganz ohne Vorgaben geht es nicht

Dagegen verteidigte der CDU-Gesundheitsexperte Jens Spahn die Vorgaben seiner Koalition in der Arzneimittelversorgung. "Einfach zu sagen: jeder Arzt kann so viel verschreiben, wie er will und egal wie teuer - da bin ich nicht bereit mitzumachen." Auch künftig müsse es gewisse Standards und Wirtschaftlichkeitsvorgaben in der Arzneimittelversorgung geben. Spahn warb um Fairness in der Bewertung arzneipolitischer Vorgaben: So habe die Koalition mit der Bonus-Malus-Regelung nicht festgelegt, welches Medikament oder welche Menge verordnet werden dürfe - sondern nur, dass es das preiswerteste sein müsse. Wolle der Arzt eine Substitution ausschließen, brauche er zudem nur Aut-idem ankreuzen. Spahn: "Darin kann ich keinen Eingriff in die Therapiefreiheit sehen."

Nach Ansicht des Potsdamer Anästhesisten und Schmerztherapeuten Dr. Knud Gastmeier ist es aber in vielen Fällen nicht möglich, wirkstoffgleiche Medikamente auszutauschen, weil manche Patienten mit schweren Nebenwirkungen auf die von der Politik gewünschte Substitution reagierten. Am Ende hafte zudem immer der Arzt, wenn eine Substitution fehlschlage, sagte er. Priorität müsse eine möglichst hochwertige Versorgung des Patienten haben, nicht die Frage, von welchem Mittel welche Menge verordnet werde, sagte er. Problematisch sei auch, dass viele Spezialmediziner nicht von den Ausnahmeregelungen der Praxisbesonderheiten profitieren könnten. Die Folge seien Regresse.

Bittmann: Ärzte müssen Therapiefreiheit verteidigen

Dr. Klaus Bittmann, Chef des NAV-Virchowbundes, warnte die Ärzte davor, sich von der Politik den schwarzen Peter für die steigenden Arzneimittelausgaben zuschieben zu lassen. Gelinge es den Ärzten nicht, aus eigener Kraft so viel Therapiefreiheit wie möglich zu wahren und zurück zu gewinnen und die Behandlung in der eigenen Hand zu halten, würden Politik und Kassen ihnen immer mehr Fesseln anlegen. In Teilen, etwa bei den strukturierten Behandlungsprogrammen, sei dies bereits Realität. Bittmann forderte die Ärzte auf, sich in ärztlichen Versorgungsgemeinschaften zusammenzuschließen, um ihre Interessen gegenüber den Kassen verteidigen zu können.

Der Gastroenterologe Dr. Stephan Kewenig vom Polikum Friedenau in Berlin, einem MVZ mit über 40 Ärzten, forderte die Kollegen auf, auch betriebswirtschaftliche Aspekte wie die unterschiedlichen Kosten von Medikamenten in ihre tägliche ärztliche Arbeit einzubeziehen. "Darum geht es in dieser Diskussion."

Lesen Sie dazu auch: Ärzte fürchten um Qualität der Versorgung in der GKV Innovationen und IGeL verbessern die Versorgung von Kassenpatienten "Koalition hat Arbeit der Ärzte erleichtert" "Krankheiten mit und ohne Lobby" "Nur 50 Euro für Problempatienten" "GKV muss sinnvolle Therapien bezahlen" "Druck macht Ärzten das Leben sauer"

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