Kassendaten für Versorgungsforschung nutzen

“Wir wollen keine Forschung für den Elfenbeinturm“

Wissenschaftler können von Daten der Kassen stark profitieren. So haben Forscher 65 000 anonymisierte Datensätze von Barmer-Versicherten analysiert, die zeigen: Aus medizinischer Sicht spricht nichts dagegen, bei PAVK-Patienten Ballons oder Stents mit Paclitaxel-Beschichtung einzusetzen.

Ilse SchlingensiepenVon Ilse Schlingensiepen Veröffentlicht:
Die Zahl der Eingriffe mit Paclitaxel-beschichteten Stents ist zurückgegangen.

Die Zahl der Eingriffe mit Paclitaxel-beschichteten Stents ist zurückgegangen.

© chanawit / stock.adobe.com

Köln. Die Routinedaten der Krankenkassen können einen entscheidenden Beitrag zur Versorgungsforschung und damit zu einer besseren Patientenversorgung leisten, sagt Dr. Ursula Marschall, leitende Medizinerin bei der Barmer. Um einen nachhaltigen Nutzen aus den Daten zu ziehen, ist aber die Einbindung ärztlichen Sachverstands entscheidend. „Wir brauchen die Zusammenarbeit von Medizinern und Datenanalysten auf einer technisch sicheren Plattform“, erläutert Marschall im Gespräch mit der „Ärzte Zeitung“.

Welche wichtigen Erkenntnisse Kassendaten liefern können, zeigt das Beispiel der Versorgung von Patienten mit peripherer arterieller Verschlusskrankheit (PAVK), die Paclitaxel-beschichtete Stents und Ballons erhalten. Nach einer 2018 im veröffentlichten Metaanalyse von 28 t kontrollierten Studien haben diese Patienten im Vergleich zu Patienten mit nicht-medikamentösen Stützen ein doppelt so hohes Sterberisiko (J Am Heart Ass. 2018; 7: e011245).

Sicherheitsbedenken unbegründet?

Das habe zu einer großen Verunsicherung bei Patienten und Ärzten geführt, die Zahl der eingesetzten Stents sei deutlich zurückgegangen, sagt Marschall. Um herauszufinden, ob die Sicherheitsbedenken berechtigt sind, haben Forscher der Universitätsklinik Münster die anonymisierten Daten von fast 65 000 Barmer-Versicherten mit PAVK analysiert.

Der Beobachtungszeitraum umfasste bis zu elf Jahre, im Mittel waren es 7,6 Jahre. „Unsere Daten können ein realeres Bild über die Versorgung liefern als die Metaanalyse.“ Das Ergebnis der Münsteraner Forscher: Bei Patienten, die medikamentenbeschichtete Stents in Becken- und Beinarterien erhalten haben, konnten sie keine höhere Mortalität feststellen. Die Studie ist gerade veröffentlicht worden (Europ Heart J. 2019; online 8. Oktober). Eine Hamburger Forschergruppe sei zu demselben Ergebnis gekommen, berichtet die Ärztin.

Unsere Daten können ein realeres Bild über die Versorgung liefern als die Metaanalyse.

Dr. Ursula Marschall, Leitende Medizinerin bei der Barmer

Jetzt sei es wichtig, für eine umfassende Aufklärung von Patienten und Ärzten zu sorgen. Nach Einschätzung von Marschall spricht aus medizinischer Sicht nichts dagegen, PAVK-Patienten Ballons oder Stents mit Paclitaxel-Beschichtung einzusetzen. Die Forscher aus Münster und Hamburg haben Kontakt mit der Deutschen Gesellschaft für Angiologie aufgenommen. Sie bereitet nach Angaben von Marschall zurzeit eine Stellungnahme an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) vor. Die Behörde hatte eine Empfehlung zum zurückhaltenden Einsatz von Ballons und Stents mit Paclitaxel abgegeben.

Untersuchungen auf der Basis der Kassen-Routinedaten haben aus Sicht der Ärztin einige Vorteile. Der Beobachtungszeitraum ist meist länger als in anderen Studien, die Zahl der einbezogenen Patienten ist größer. „Bei unseren Daten gibt es keine Selektion der Patientengruppen etwa nach Alter oder Geschlecht“, erklärt sie.

Kassendaten seien zudem besser geeignet, Patientenverläufe zu beurteilen, und zwar sektorenübergreifend. „Unsere Daten sind unschlagbar, was die Kostenentwicklung anbelangt.“ Marschall erwartet, dass die Arbeit mit Kassendaten bei der Diskussion über Mindestmengen an Bedeutung gewinnen wird.

Datawarehouse eingerichtet

Sie begrüßt die Absicht des Bundesgesundheitsministeriums, die Nutzungsmöglichkeiten von Kassendaten für Forschungszwecke auszuweiten. So sieht der Entwurf für das Digitale-Versorgung-Gesetz die Schaffung eines Forschungsdatenzentrums für Sozialdaten vor. „Dabei wird allerdings noch jede Menge Details zu regeln sein.“

Die Barmer hat mit dem Institut für Gesundheitssystemforschung bereits ein eigenes wissenschaftliches Institut aufgebaut und ein Datawarehouse eingerichtet. „Wir arbeiten mit ausgewiesenen Experten zusammen, denen wir Zugang zu dem Datawarehouse geben“, berichtet Marschall. Ziel müsse dabei sein, die reale Versorgung in den Blick zu nehmen und sie zu verbessern. „Wir wollen keine Forschung für den Elfenbeinturm.“

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