Arznei-Verordnung wie in der IT-Steinzeit?

Unsinnige Datenbankabfragen, hohe Kosten, mehr Bürokratie: Die laufende Zertifizierung der KBV für Rezept-Software schlägt Wellen. Vor allem Praxen, die viel automatisiert haben, fürchten einen Rückschritt in die IT-Steinzeit.

Philipp Grätzel von GrätzVon Philipp Grätzel von Grätz Veröffentlicht:
Fast alles elektronisch: Bei Dr. Zlatko Prister werden viele Arbeitsprozesse per Tastaturbefehl beschleunigt.

Fast alles elektronisch: Bei Dr. Zlatko Prister werden viele Arbeitsprozesse per Tastaturbefehl beschleunigt.

© Monika Peichl

BERLIN. Für den Hausarzt Dr. Zlatko Prister aus Frankfurt am Main kam die Nachricht per Post. Sein Praxis-IT-Hersteller informierte ihn über anstehende Änderungen bei der Verordnung von Arzneimitteln, die zum 1. Juli scharf geschaltet werden.

Hintergrund ist die derzeit laufende Rezertifizierungsrunde für die Verordnungssoftware, die auf das Arzneimittelversorgungs-Wirtschaftlichkeits-Gesetz (AVWG) aus dem Jahr 2006 zurückgeht.

Der neue Anforderungskatalog von KBV und GKV-Spitzenverband soll die Vorgaben konkretisieren. Die Zertifizierung obliegt der KBV.

Als einer der Pilotanwender des Systems Compumed M1 konnte Prister die Veränderungen bereits testen. Und er ist schockiert: "Wir haben die Prozesse bei der Rezeptverordnung durch den Einsatz einer automatisierten Formularverwaltung seit Jahren immer schlanker gemacht", so Prister.

Jetzt werde vieles davon zerschossen. Der Grund ist, dass die Praxis-IT künftig bei jeder Verordnung auf die Arzneimitteldatenbank zugreifen muss.

Dort sind zahlreiche neue Informationen hinterlegt - nicht nur zu Rabattverträgen, sondern auch zu Therapiehinweisen des GBA, zur Verordnungsfähigkeit bestimmter Medikamente und zu Leitsubstanzen im Rahmen regionaler Arzneimittelvereinbarungen.

Workflow wird bei Nutzung von Makros gestört

Für Ärzte, die Rezepte ohnehin jedes Mal über die Datenbank erstellen, ändert sich dadurch wenig. Wer aber, wie Prister, intensiv mit Makros arbeitet, bei dem wird der Workflow empfindlich gestört.

Prister nutzt beispielsweise insgesamt 18 Rezeptvorlagen mit von ihm ausgewählten Medikamenten für häufige Erkrankungen. Diese Rezeptvorlagen sind Teil eines standardisierten Workflows.

Sie können über die F-Tasten der Tastatur abgerufen werden und landen dann sofort im Drucker am Empfang, ohne dass dazu die Arzneimitteldatenbank bemüht werden müsste.

"In Zukunft habe ich jedes Mal eine Pflichtüberprüfung in der Datenbank. Was soll das?", fragt der Arzt und fürchtet erheblichen zusätzlichen Zeitaufwand.

Das gleiche gilt für die Erstellung von Vorrezepten für chronisch kranke Patienten am Quartalsanfang: "Bisher ging das bei uns mit einem Knopfdruck. Jetzt muss ich am Bildschirm reagieren, bevor ein Rezept erstellt wird. Das kostet enorm viel Zeit."

Ob die Beeinträchtigung des Rezeptierungs-Workflows durch die AVWG-Zertifizierung zwangsläufig ist oder nicht, darüber gehen die Meinungen etwas auseinander.

Die KBV weist in einem internen Schreiben an die KVen, das der "Ärzte Zeitung" vorliegt, darauf hin, dass es entscheidend auf die Umsetzung im jeweiligen System ankomme und dass der Arzt zudem die Möglichkeit habe, Hinweise für konkrete Präparate gezielt abzuschalten.

Nicht überall herrscht Unmut über die Zertifizierung

Auch bei den Praxis-IT-Herstellern wird die AVWG-Zertifizierung nicht überall gleich gesehen. Der zweite große Anbieter medatixx beurteilt den neuen Anforderungskatalog ähnlich kritisch wie die CompuGroup. Andere sind entspannter.

Bei Frey ADV ist man zuversichtlich, dass die anstehende Zertifizierung reibungslos verläuft. Der Workflow bei Wiederholungsrezepten sei nicht anders als vorher. Die erforderlichen Warnhinweise würden präsentiert, müssten aber nicht aktiv weggeklickt werden.

Der Magdeburger Hersteller Softland hat die nötige Zertifizierung schon zum zweiten Quartal bekommen. Einen Ansturm auf die Hotline gab es damals nicht. Die Informationen werden dabei dezent eingespielt: Me-too-Präparate werden rot hinterlegt.

Ein "S" weist auf einen Substitutionsvorschlag hin. Der verordnende Arzt kann sich die Information ansehen, muss es aber nicht. Spezielle Info-Fenster, die weggeklickt werden müssen, seien bei der Zertifizierung nicht gefordert worden.

Relevant scheint bei all dem nicht so sehr die IT-Lösung per se zu sein, sondern die Frage, wie intensiv der Arzt mit Formularautomatisierung arbeitet. Je mehr Automatisierung, desto mehr Probleme drohen.

Schränken die Vorgaben die Freiheit der Ärzte ein?

Neben Hausärzten wie Prister dürften vor allem rezeptierende Fachärzte betroffen sein, bei denen Makros sehr beliebt sind. "Die Ausführung des Makros muss wegen der KBV-Vorgaben angehalten werden, damit dem Arzt zuerst die kompletten Präparatedetails angezeigt werden", so die CompuGroup.

"Erst nachdem der Arzt aktiv den ‚Weiter-Knopf‘ betätigt, darf das Makro fortgesetzt werden."

Auch die Anbieter, die weniger intensiv mit Makros arbeiten, sind von den neuen Vorgaben der KBV nicht begeistert.

Der Aufwand sei enorm, heißt es bei der Frey ADV in Berlin, und die Vorgaben schränkten die Freiheit des Arztes teilweise erheblich ein, etwa bei den "aut idem"-Kreuzen.

Viele in der Praxis-IT-Branche, große wie kleinere Anbieter, haben zudem den Eindruck, dass bei der KBV-Zertifizierung unterschiedlich genau hingesehen wird. Der Zeitaufwand für die Zertifizierung schwankt nach Herstellerangaben zwischen wenigen Stunden und mehreren Tagen.

Werbung bei Arzneiverordnung wird weiter eingeschränkt

Einer der Gründe, warum im Zuge des Arzneimittelversorgungs-Wirtschaftlichkeits-Gesetz (AVWG) eine Zertifizierung der Software für die Arzneimittelverordnung eingeführt wurde, war der Eindruck von Teilen der Politik wie der Ärzteschaft, dass Pharma-Werbung in der Praxis-IT intensiver werde. Entsprechend sind die Einflussmöglichkeiten der Industrie auch in der neuen Zertifizierungsrunde ein Hauptthema.

Generell soll Werbung nur noch in mit "Werbung" gekennzeichneten Fenstern erlaubt sein. Und hinter diesen Fenstern dürfen keine Funktionen liegen, die unmittelbar das Rezept verändern. Auch bei aut idem ändert sich einiges.

Nicht mehr erlaubt ist es, bei bestimmten Präparaten oder Herstellern pauschal aut idem auszuschließen. Ein patientenbezogener Ausschluss von aut idem, der bei Folgerezepten berücksichtigt wird, soll aber möglich bleiben.

Ebenfalls nicht mehr erlaubt sind Tagesfreischaltungen. Pharmaunternehmen hatten bisher die Option, Preisänderungen oder Neueinführungen – etwa bei einem Patentablauf – sofort in die Datenbanken einzuspielen, und nicht erst beim nächsten Update. Die Praxis-EDV-Anbieter lassen sich diesen Service bezahlen.

Künftig geht das nicht mehr: Es darf nur noch der Gesamtdatenbestand aktualisiert werden, um alle gleich zu behandeln. Kritiker halten das für unsinnig, weil den Krankenkassen dadurch Mehrausgaben entstehen können. Im Extremfall, wenn eine Preisänderung kurz nach einem Update erfolgt, werden so drei Monate lang teurere Präparate verordnet als nötig.

Die Einschränkung der Werbemöglichkeiten könnte nach Auffassung mehrerer Praxis-IT-Anbieter dazu führen, dass die Preise für Arzneimitteldatenbanken beziehungsweise für die Praxis-IT insgesamt steigen.

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Das Kind mit dem Bade ausgeschüttet

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