Betreutes Arbeiten sichert Teilhabe am Leben

In einer Stadtallendorfer Tagesstätte fertigen Menschen Beschläge. Früher arbeiteten sie in der Industrie, das geht jetzt nicht mehr, da sie chronisch psychisch krank sind.

Von Gesa Coordes Veröffentlicht:

STADTALLENDORF. Rolf M. mag die Arbeit für den Stadtallendorfer Türgriffhersteller Hoppe sehr. Man braucht nämlich viel Geschick und kräftige Hände dazu. Beides hat der 53-Jährige, der jahrelang als Bürokaufmann gearbeitet hat.

Dass M. manisch-depressiv ist, merkt man ihm beim Hantieren mit den Unterbauteilen für Fenster- und Türgriffe nicht an: "Das ist der Sup 42", erklärt er und hält ein rundes Metallteil in die Luft: "Da wird der Sprengring mit dem Daumen reingedrückt." Die Arbeit ist schwieriger als sie aussieht. Und es ist eine Tätigkeit, die sich bislang nicht automatisieren lässt. Seit elf Jahren arbeitet die Stadtallendorfer Tagesstätte für psychisch Kranke für Hoppe.

Rolf M. fertigt in der Tagesstätte Tür- und Fensterbeschläge für den weltweiten Vertrieb eines ortsansässigen Herstellers.
© Rolf K. Wegst

Rolf M. fertigt in der Tagesstätte Tür- und Fensterbeschläge für den weltweiten Vertrieb eines ortsansässigen Herstellers. © Rolf K. Wegst

© Rolf K. Wegst

Jeden Tag kommen zwischen 30 und 40 Menschen in die Tagesstätte LOK bei Marburg. Es sind chronisch psychisch Kranke, denen die sieben Mitarbeiter hier eine Struktur für den Tag geben. Es gibt einen klaren Wochenplan mit festen Zeiten für Arbeit, Kochen, Kreativangebote, Konzentrationstraining, Bewegung, Singen, Ruhe, Spaziergänge, Ausflüge und Kaffeeklatsch. Das Ziel: Erneute Klinik-Aufenthalte zu verhindern und die Besucher in ihrer Lebenssituation zu stabilisieren. "Manche würden ohne uns gar nicht aufstehen", sagt Rudolf Topfstedt-Lohaus vom Leitungsteam. Für andere wären die öffentlichen Busse und Bahnen ein unüberwindbares Hindernis. Deswegen werden die meisten schon morgens mit dem Tagesstätten-Bus abgeholt.

Zentraler Treffpunkt ist das Mittagessen um 12:45 Uhr: Christine O. und Dorothea A. sitzen sich bei Spaghetti Bolognese und Bohnensalat gegenüber. Die Frauen sind in der Tagesstätte zu Freundinnen geworden. Christine O. leidet unter einer Angstpsychose. Allein aus dem Haus zu gehen, fällt ihr sehr schwer. Doch in die Tagesstätte kommt sie gern: "Die Leute sind mir wichtig. Wir sitzen hier alle im selben Boot", sagt die 50-Jährige. Spätaussiedlerin Dorothea A. wurde schon als Zehnjährige zum Waisenkind. Gemeinsam mit ihrer Schwester wuchs sie weitgehend allein auf. 26 Jahre hat sie als Bautechnikerin gearbeitet, bevor sie nach der Ausreise nach Deutschland depressiv wurde. In der Tagesstätte mag sie vor allem das Basteln und das Putzen. Jeder Besucher übernimmt nämlich auch verschiedene Dienste, die vom Einkaufen über Kochen bis zum Müll raustragen reichen.Die Arbeit für Hoppe ist ein zentraler Teil: Vormittags eineinhalb und nachmittags eine Stunde fertigen die Besucher Beschläge und packen Zubehör - etwa für Türstopper - in Päckchen ab. Jeder arbeitet aber nur so viel und so lange, wie er kann. Auch wenn die Stückzahlen niedrig sind, ist die Produktion ein Glücksfall für die Tagesstätte: "Die Arbeit hat einen großen Wert für die Besucher", sagt Ergotherapeutin Susanne Bäcker. Schließlich gehen die in der Werkstatt hergestellten Teile in die ganze Welt. Alle paar Jahre, wenn die Gruppe eine Million der Unterbauteile produziert hat, gibt es ein großes Buttercremetorten-Essen mit den Chefs von Hoppe. Und dass sie bei der Zuliefererbeurteilung in die beste Kategorie eingestuft wurden, macht alle stolz. Für die Besucher ist es aber auch wichtig, dass es zumindest ein wenig Geld für die Arbeit gibt - zwischen 50 Cent und fünf Euro pro Tag. "Manche kommen nur deswegen", sagt Topfstedt-Lohaus.

"Das ist eine sinnvolle Aufgabe", freut sich Rolf M.: "Das kann nicht jeder." Kurz bevor er vor neun Jahren in die Tagesstätte kam, war er orientierungslos auf einem Bahnhof in Frankreich aufgegriffen worden. Er halluzinierte, weil er seine Tabletten nicht genommen hatte: "Dann bilde ich mir Sachen ein, die gar nicht stimmen", sagt der 53-Jährige. Seitdem hat er sich stabilisiert, sagen die Betreuer: "Wenn er heute mit einem großen Rucksack mit vielen Papieren in die Einrichtung kommt und ganz viel redet, ist das für uns immer ein Warnzeichen", sagt Susanne Bäcker. Dann wissen die Mitarbeiter, dass sie sich besonders um Rolf M. kümmern müssen.

Der Alltag in der Tagesstätte LOK wird während des Hessentages vom 28. Mai bis zum 6. Juni in Stadtallendorf vorgestellt. In Halle 1 der Landesausstellung informieren der Landeswohlfahrtsverband sowie der Verein für Beratung und Therapie über das von beiden getragene Angebot.

Der Verein wurde 1980 gegründet, um eine umfassende psychosoziale Versorgung für Stadtallendorf und die Umgebung aufzubauen. Heute gehören eine psychosoziale Kontakt- und Beratungsstelle, Betreutes Wohnen, eine Schwangerschafts- und Sexualberatungsstelle sowie eine Schuldnerberatungsstelle dazu.

Die 1994 eingerichtete Tagesstätte betreut bis zu 40 Menschen. Die Besucher sind zwischen 25 und 70 Jahre alt. Viele haben jahrelang in der Industrie gearbeitet, bevor sie durch eine Lebenskrise oder schleichend krank wurden. (coo)

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