Pharmaforschung

Brexit krempelt Studienuniversum kräftig um

Die Pharmaindustrie muss in puncto Organisation und Durchführung klinischer Studien switchen. Denn zum Jahreswechsel gelten Dienstleister in Großbritannien als Angehörige von Drittstaaten.

Matthias WallenfelsVon Matthias Wallenfels Veröffentlicht:
Klinische Forschung wird in der EU komplizierter, wenn Großbritannien zum Jahreswechsel den Status des Drittstaats bekommt.

Klinische Forschung wird in der EU komplizierter, wenn Großbritannien zum Jahreswechsel den Status des Drittstaats bekommt.

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Brüssel/London. Ringen derzeit die EU und das Vereinigte Königreich noch um die weitere Ausgestaltung ihrer Beziehungen nach dem bereits erfolgten Austritt Großbritanniens aus der EU und dem Ablauf der Übergangsfrist zum Ende dieses Jahres, so zeichnet sich zum Jahreswechsel bereits ein einschneidender Paradigmenwechsel in puncto klinischer Studien ab.

Denn die QPs (Qualified Persons) zur Freigabe von klinischem Material (Investigational Medical Products/IMPs) müssen ab dem 1. Januar 2021 in der EU angesiedelt sein. Das geht aus einer gemeinsamen technischen Notiz der EU-Kommission, der EU-Zulassungsbehörde EMA sowie der Heads of Medicines Agencies (HMA), dem Zusammenschluss der nationalen Zulassungsbehörden für Human- und Tierarzneimittel im Europäischen Wirtschaftsraum, hervor.

Grund sei, dass Großbritannien nicht die notwendige Statusverlängerung beantragt habe und somit ab dem Neujahrstag 2021 als Drittstaat behandelt werde.

Auch laufende Studien betroffen

Wie der in Hamburg ansässige Dienstleister für Pharma- und Biotechnologieunternehmen GBA Group Pharma verdeutlicht, seien von dieser Neuregelung nicht nur künftige, sondern auch zahlreiche laufende klinische Studien betroffen – stünden Pharmaunternehmen ab dem 1. Januar 2021 möglicherweise vor erheblichen Schwierigkeiten, wenn sie ihre klinischen Studien in der EU mit QP Partnern aus Großbritannien durchführten.

Aufgrund der komplexen Lieferketten für klinische Studien in der EU müssten Unternehmen nun unverzüglich Vorkehrungen treffen, um die Durchführung ihrer klinischen Projekte zu gewährleisten. So werden aus Sicht der GBA Group nach dem Brexit die QPs, die eine zentrale Rolle bei der Entwicklung, Herstellung und Logistik von Pharmazeutika in Europa spielten, nicht mehr autorisiert sein, klinisches Material für die Europäische Union zu zertifizieren, wenn sie ihren Sitz in Großbritannien haben.

Folglich könnten pharmazeutische Unternehmen, die mit QPs im Vereinigten Königreich zusammenarbeiten, durch dessen Austritt aus der EU mit Störungen ihrer Lieferketten konfrontiert werden. Dies gelte sowohl für IMPs und Investigational New Drugs (INDs) als auch für bereits zugelassene Produkte.

„Neue Regelungen, insbesondere für die Belieferung klinischer Studien mit Prüfmaterial (Clinical Trial Supply Management, CTSM) und für QP-Dienstleistungen, können bei pharmazeutischen Unternehmen zu Mehrkosten in Millionenhöhe für mögliche Verzögerungen oder Abbrüche klinischer Studien führen, wenn sie nicht rechtzeitig vorbereitet sind“, heißt es in einer Unternehmensmitteilung der Hamburger. Zudem werde die Logistik für zugelassene Produkte im Zuge des Brexit deutlich komplizierter werden.

Studien können nicht einfach abgebrochen werden

In der gemeinsamen technischen Notiz von EU-Kommission, EMA und HMA heißt es: „In klinischen Studien verwendete Prüfpräparate können nur importiert werden, wenn ihre Chargenfreigabe von einer Qualified Person in der EU zertifiziert wurde. Andernfalls kann im schlimmsten Fall die Studienbehandlung abgebrochen und damit die Sicherheit der Studienteilnehmer gefährdet werden.“

Wie in der Notiz weiter erwähnt, seien zum Stand 1. Juli 2020 in der europäischen Datenbank für klinische Studien (EudraCT) 250 Studien registriert gewesen, in denen die QPs in Großbritannien lokalisiert sind und die in den vergangenen drei Jahren in mindestens einem anderen Mitgliedstaat als dem Vereinigten Königreich genehmigt worden seien.

Aufgrund der neuen Rechtslage müssen die Unternehmen nach Ansicht von Elisabeth Lackner, CEO der GBA Group Pharma, nun rasch handeln, sofern sie im Vereinigten Königreich ansässige QPs und andere CTSM-Dienstleister einsetzen. Konkret laute die Herausforderung, bis zum Jahresende QPs in der Europäischen Union zu etablieren, die die jeweilige Landessprache und Regularien beherrschen. Dadurch könne es einen Engpass an geeigneten QPs in der EU geben.

„Laufende klinische Studien können nicht einfach abgebrochen werden. Jede Störung kann dazu führen, dass bestehende qualifizierte und auditierte Lieferketten für laufende und geplante Studien neu organisiert werden müssen“, erklärt Lackner die vertrackte Situation. Sollte ein Unternehmen im Verlauf einer Studie die QP wechseln müssen, müsse möglicherweise eine neue QP die gesamte Lieferkette neu qualifizieren, ergänzt Lackner.

Nicht die einzige Großbaustelle

„Zusätzlich zu den massiven Auswirkungen der Corona Krise kommt hier eine weitere kritische Herausforderung auf die pharmazeutische Industrie zu“, mahnt Lackner rasches Handeln an. Unterdessen sind die klinischen Studien nicht die einzige Großbaustelle der Pharmaindustrie im Brexit-Universum.

Erst jüngst hat der Europäische Dachverband der forschenden pharmazeutischen Industrie EFPIA) davor gewarnt, dass die Pharmaexporte sowohl in der EU als auch in Großbritannien massiv Federn lassen müssten, käme es zu einem No-Deal-Szenario und damit zu einem harten Brexit ohne Abkommen.

Hier sieht die GBA Group noch eine zusätzliche potenzielle Belastung für die Pharmaindustrie. „Für Unternehmen außerhalb der EU ist der Transport von Arzneimitteln innerhalb der Union ein Problem. Heute können diese Produkte ohne Import- oder Exportzölle transportiert und vertrieben werden.

Mit Vollendung des Brexit könnten in Großbritannien hergestellte Arzneimittel mit einer Mehrwertsteuer belegt werden, wenn sie in die EU geliefert werden,“ so Lackner weiter.

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