Frauenbeauftragte im Interview

Sexuelle Belästigung im Gesundheitssektor: Betroffene zu Akteuren machen

Menschen in Gesundheitsberufen sind von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz besonders betroffen. Wie die Charité damit umgeht, berichtet die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte Christine Kurmeyer.

Andrea SchudokVon Andrea Schudok Veröffentlicht:
Stopp: Die Charité hat ein Verfahren für den Umgang mit sexuellen Übergriffen entwickelt.

Stopp: Die Charité hat ein Verfahren für den Umgang mit sexuellen Übergriffen entwickelt.

© Patrick Daxenbichler / stock.adobe.com

Ärzte Zeitung: Das Thema sexuelle Belästigung hat durch die Me-Too-Debatte an enormer öffentlicher Wahrnehmung gewonnen. Aber was genau ist unter sexueller Belästigung zu verstehen?

Dr. Kurmeyer: Sexuelle Belästigung ist ein großer Graubereich: Es fängt beim Anstarren an und geht bis in die Extreme. In unserer Beratungspraxis an der Charité erleben wir immer wieder, wie despektierliche Bemerkungen am falschen Ort zur falschen Zeit grenzverletzend sind, obwohl sie in anderen Konstellationen vielleicht gar nicht so schlimm wären. Wir müssen also das ganze Setting betrachten.

Warum ist der Gesundheitssektor von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz besonders betroffen?

Bei sexueller Belästigung handelt es sich um Grenzverletzungen und in der Klinik finden diese jeden Tag statt: Jede Spritze ist eine Grenzüberschreitung der Haut. Die Patienten müssen Dinge von sich erzählen, die sie anderen Menschen niemals erzählen würden. Das macht die Klinik zu einem besonders anfälligen Ort, dass aus Grenzüberschreitungen Grenzverletzungen entstehen.

Dr. Christine Kurmeyer von der Charité.

Dr. Christine Kurmeyer von der Charité.

© Privat

An der Charité wurde zwischen 2014 und 2016 eine Studie zur Prävention sexueller Belästigung am Arbeitsplatz durchgeführt, die „Watch-Protect-Prevent“-Studie. Etwa 70 Prozent der befragten Ärztinnen und Ärzte gaben an, bereits auf der Arbeit sexuell belästigt worden zu sein. Welche Konsequenzen hat die Charité daraus gezogen?

Zunächst wies der Vorstand darauf hin, dass es diese Verhältnisse an der Charité gibt aber sie nicht toleriert werden. Wir haben festgestellt, dass viele Betroffene gar nicht wissen, an wen sie sich wenden sollen. Daraufhin haben wir auf der Startseite im Intranet einen Alert-Button installiert, der sofort zu Ansprechpersonen führt.

Wir haben außerdem eine Info-Broschüre und eine Kitteltaschenkarte mit den wichtigsten Telefonnummern entworfen. Und in unserer Richtlinie steht genau drin, wie ich mich an wen wenden kann.

Im Fokus steht der damals entwickelte standardisierte Verfahrensablauf. Für die Betroffenen ist es wichtig, zu jeder Zeit zu wissen, wo sie stehen und was die Möglichkeiten sind.

Wie sieht dieser standardisierte Ablauf aus?

Betroffene können zunächst unverbindlich mit den Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten sprechen. Häufig fragen sie: War das jetzt sexuelle Belästigung oder ist das nur meine Empfindlichkeit? Unsere Aussage: Alles, was eine Person als zu nah empfindet, muss erst mal geklärt werden. Wir müssen, das ist das Wichtigste, die Betroffenen ernst nehmen.

Als Nächstes können Betroffene mit dem Verursacher sprechen und gegebenenfalls eine Vorgesetzte hinzuziehen. In einem ruhigen, sachlichen Gespräch wird erklärt, was eigentlich nicht in Ordnung war.

Die dritte Eskalationsstufe ist die Weiterleitung an den Personalchef, der arbeits- und dienstrechtliche Maßnahmen ergreifen kann. Es gibt möglicherweise ein Personalgespräch und im Extremfall eine Abmahnung oder Kündigung. Wenn der Verursacher ein Patient war, muss zivilrechtlich dagegen vorgegangen werden. Es kann ein Hausverbot ausgesprochen werden.

Wie hat sich der Umgang mit sexueller Belästigung an der Charité verändert?

Als der standardisierte Verfahrensablauf veröffentlicht wurde, hat sich die Anzahl der Beschwerden deutlich erhöht. Nicht, weil es zu mehr Übergriffen gekommen ist, sondern weil die Menschen das Vertrauen hatten, dass Kollegen, die sich falsch verhalten haben, nicht gleich gekündigt sondern angehört werden.

Wo sehen Sie aktuell noch Verbesserungspotenzial?

In der Verfahrensdokumentation: Nicht alle Vorfälle werden bei einer zentralen Stelle protokolliert. Dadurch ist es manchmal mühsam, alle Fakten, die sich teilweise über längere Zeit aufgehäuft haben, zusammen zu bringen.

Was raten Sie anderen Kliniken, die präventiv gegen sexuelle Belästigung vorgehen wollen?

Die Führungskräfte sollten zum Umgang mit sexueller Belästigung weitergebildet werden. An der Charité haben wir Kurzinterventionen für Teams etabliert: Wir informieren über unsere Studienergebnisse und danach sollen alle Teammitglieder, Pflegehelfer bis Chefarzt, in einem moderierten Workshopteil schriftlich angeben, was positiv in ihrem Team ist, was nicht so gut organisiert ist und welche Aussagen sie nie wieder hören möchten. Schließlich sind verbale Übergriffe sehr dominant. Die Belegschaft braucht Zeit miteinander zu reden.

Wie sie bereits sagten, scheitert es aber auch oft daran, dass Betroffenen nicht wissen, an wen sie sich wenden sollen – obwohl Arbeitgeber durch das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz dazu verpflichtet sind, über Beratungsangebote zu informieren. Wie kann das sein?

Das Problem sexueller Belästigung wird oft nicht wahrgenommen: Viele haben das Bild vom ‚Busengrabscher‘ vor Augen und überlegen dann kurz: Haben wir so etwas in unserem Team? Nein, also ist die Sache abgehakt.

Als wir an der Charité angefangen haben, uns mit dem Thema auseinanderzusetzen, habe ich mich gewundert, warum es an anderen Kliniken kein Informationsmaterial dazu gibt. Vielleicht sind wir ja die Einzigen, die dieses Problem haben? Dann sprach ich mit externen Kolleginnen. Sie sagten mir, dass es bei ihnen natürlich auch sexuelle Belästigung gebe, aber keiner darüber sprechen möchte. Das war für uns das Signal, mehr Aufklärungsarbeit zu leisten und die Studie zu starten.

Dr. Christine Kurmeyer

  • seit 2013 Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte an der Charité in Berlin
  • 1989-1994 Promotion im Bereich Sozialpsychologie an der Leibniz Universität Hannover
  • 1986-1989 Krankenschwester in Gronau

Was sagen Sie als Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte Betroffenen sexueller Angriffe?

Es ist wichtig, die Betroffenen darin zu bestätigen, dass das nicht in Ordnung war, was ihnen passiert ist und wir dagegen vorgehen können, wenn sie das wollen. Außerdem stellen wir die Situationen nach und üben den Umgang.

Ich habe drei Beispiele für sexualisierte Grenzverletzungen in der Klinik mitgebracht. Wie sollten Betroffene in diesen Situationen reagieren? Im ersten Beispiel soll sich eine Patientin für eine Untersuchung entkleiden, sie schaut dabei den Pfleger an und kommentiert: ‚Für Sie ziehe ich mich gerne aus.‘

Es ist ohnehin schwierig, wenn der Pfleger allein mit der Patientin im Raum ist. Wir versuchen das nach Möglichkeit zu vermeiden, auch im umgekehrten Überkreuzgeschlechterverhältnis. Dem Pfleger empfehle ich zu sagen: ‚Moment, ich werde jetzt meine Kollegin holen, damit wir das hier sachlich und medizinisch korrekt abwickeln können.‘

Im nächsten Beispiel bezeichnet der Chefarzt im Op die Medizinstudentin als ‚Mädel‘, den männlichen Kommilitonen hingegen als den ‚angehenden Herrn Kollegen‘.

Natürlich kann eine Frau in dem Moment sagen: ‚Ich bin kein Mädel.‘ Das ist aber meist extrem schwierig, insbesondere über das hierarchische Gefälle hinweg. Insofern würde ich der Studentin raten, zu einer Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten zu kommen, um mögliche Schritte zu besprechen.

Das komplette Gespräch als Podcast

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Im letzten Beispiel soll eine Pflegerin einen Patienten duschen. Dieser fasst ihr dabei an die Brust und beginnt vor ihren Augen zu masturbieren.

In aller Regel gibt es in den Badezimmern im Krankenhaus einen Notfallknopf für Patienten. Die Pflegerin sollte ihn betätigen, damit andere Kolleginnen und Kollegen zur Hilfe kommen können. Wenn Andere da sind, sind Patienten in aller Regel nicht mehr so motiviert, vor Pflegerinnen zu masturbieren.

Außenstehende können also einen großen Unterschied machen: Was können sie genau tun?

In erster Linie ist eine sexualisierte Grenzverletzung mit dem subjektiven Empfinden der Betroffenen verbunden. Deswegen ist es nicht immer angemessen, sofort zu reagieren. Bei dem Beispiel im Op sollte der Kommilitone die Studentin im Nachhinein fragen: ‚War das für dich ok?‘ Denn es gibt keinen objektiven Tatbestand einer sexuellen Belästigung. Man kann nicht immer wissen, in welchem Verhältnis die Personen stehen. Es kann ja sein, dass das Vater und Tochter sind. Dann wird die Situation von der Tochter womöglicherweise nicht als Grenzverletzung empfunden.

Außenstehende können fragen, ob sie etwas tun sollen und anbieten, gemeinsam zur Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten zu gehen – oder zur Stationsleitung oder Personalräten. Wie in jeder Zeugensituation ist es auch wichtig, sich Datum, Uhrzeit, Ort und Anwesende zu merken und hinterher in einem Gedächtnisprotokoll zusammenzufassen. Je mehr Fakten zusammengetragen werden, desto besser ist es. Am wichtigsten ist jedoch, nicht einfach zu handeln und die Betroffene damit wieder zu übergehen. Sie sollte selbst zur Akteurin werden. Betroffene von sexualisierter Grenzverletzung fühlen sich ohnmächtig und hilflos. Ihnen das Gefühl des eigenständigen Handelns wiederzugeben, ist eine der wichtigsten Maßnahmen gegen sexuelle Belästigung.

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