Dr. Clemens Fischer im Interview

„Wir schöpfen unser Potenzial nicht aus“

Der Arzt und Pharma-Unternehmer Dr. Clemens Fischer ärgert sich darüber, dass bestimmte Prozesse in der medizinischen Forschung immer noch zu lange dauern. Er fordert mehr Tempo, nicht auf Kosten der Sicherheit von Patienten, im Gegenteil: zu ihrem Wohl. Was hier möglich ist, zeige das schnelle Agieren der Behörden bei der Suche nach einem Impfstoff gegen SARS-CoV-2.

Wolfgang van den BerghVon Wolfgang van den Bergh Veröffentlicht:
Mit medizinischem Cannabis zur Schmerzbehandlung und Produkten zur Therapie gegen Reizdarm hat sich Dr. Clemens Fischer (li.) einen Namen gemacht. Hier im Video-Interview mit Wolfgang van den Bergh von der Ärzte Zeitung.

Mit medizinischem Cannabis zur Schmerzbehandlung und Produkten zur Therapie gegen Reizdarm hat sich Dr. Clemens Fischer (li.) einen Namen gemacht. Hier im Video-Interview mit Wolfgang van den Bergh von der Ärzte Zeitung.

© Stephan Thomaier

Ärzte Zeitung: Dr. Fischer, Sie werden als rast- und ruhelos bezeichnet, sind ein umtriebiger Geschäftsmann und zugleich neugieriger Mediziner und Forscher. Wenn man das zusammenfügt, klingt das ein bisschen so, als ob der Rest der Welt sein Potenzial nicht ausschöpft. Ist das so?

Dr. Clemens Fischer: Ja, das ist tatsächlich so! Nehmen Sie die aktuelle Diskussion um die Entwicklung eines Impfstoffs gegen SARS-CoV-2. Die zeigt doch, was möglich ist, wenn man nur will. Also, wenn wir genügend behördliche Ressourcen aufbauen und auf Industrieseite mutiger und schneller werden, dann könnten wir ein ganz anderes Potenzial mobilisieren. Derzeit liegt es vielleicht bei zehn bis zwanzig Prozent.

Warum machen Hemm- und Hindernisse die Forschungsprozesse oft so langwierig und kostenintensiv?

Das muss man von mehreren Seiten betrachten. Das erste Hemm- oder Hindernis liegt bei den Unternehmen selbst. Sind sie klein und agil, dann fehlen ihnen oft die finanziellen Mittel. Sind sie größer, dann haben sie oft ein System, das risikoavers ist. Der Fokus liegt dann eher auf dem zu erwartenden Ergebnis im nächsten oder übernächsten Quartal.

Dann kommt hinzu, dass die Verweildauer von Vorständen heutzutage oft recht kurz ist. Das heißt: Ich werde nicht für den Erfolg in drei, vier oder fünf Jahren belohnt, sondern dafür, das Risiko gering zu halten. Ich bin der festen Meinung: Will man wirklich erfolgreich sein, muss man ein gewisses Risiko eingehen.

Dr. Clemens Fischer

  • Aktuelle Position: Gründer und CEO der FUTRUE Gruppe, einem international tätigen Healthcare Inkubator
  • Ausbildung: Studium der Medizin und Promotion, Technische Universität München; Masterstudium Betriebsökonomie und MBA-Abschluss, Harvard Business School
  • Karriere: Erste eigene Firma mit 17 Jahren. 2001 Einstieg bei Novartis und später Mitglied des deutschen Vorstands für Strategie und kardiovaskuläre Indikationsbereiche. 2007 Gründung der FUTRUE Gruppe, seitdem Veräußerung einiger Unternehmen unter anderem an Novartis, Dermapharm und Perrigo. Im Juni 2020 Börsengang mit dem OTC-Hersteller PharmaSGP
  • Privates: Der in Murnau am Staffelsee geborene Pharmaunternehmer, Jahrgang 1975, lebt in München und hat zwei Zwillingstöchter.

Ist das nun ein typisch deutsches oder vielmehr ein internationales Phänomen?

Das ist kein deutsches, das ist ein internationales Phänomen. Im Gegenteil: Deutschland sollte sich hier nicht so schlecht machen.

Zurück zur Suche nach einem Impfstoff gegen SARS-CoV-2. Zeigen die aktuellen Prozesse nicht auch, dass wir grundsätzlich viel schneller und viel breiter forschen müssen?

Ein ganz großes Ja. Wir haben in den vergangenen Monaten gesehen, was alles möglich ist. Um Prozesse zu beschleunigen, gibt es heute Antworten innerhalb von wenigen Tagen und nicht erst in Wochen, Monaten oder sogar Jahren. Man fragt sich, warum man dazu nicht schon vorher in der Lage war.

Wir wissen doch auch, dass es eine Vielzahl anderer Erkrankungen gibt, die Tag für Tag viele Menschenleben kosten oder großes menschliches Leid verursachen. Die aktuelle Situation lässt hoffen, dass sich hier etwas bewegt. Ich möchte ausdrücklich betonen, dass dies nicht auf Kosten der Sicherheit der Patienten geht.

Reizdarm und Schmerzen: In diesen Indikationen sind Sie seit Jahren – primär – unterwegs, immer wieder mit wichtigen neuen Erkenntnissen. Was sind hier Ihre nächsten Ziele?

Ist das Reizdarmsyndrom überhaupt eine Erkrankung? Fakt ist, dass der Reizdarm als Erkrankung lange Zeit nicht ernst genommen worden ist. Reizdarm ist eine Ausschlussdiagnose. Betroffene mussten sich nicht selten anhören, sie seien Simulanten. Wir haben Millionen von Menschen gesagt: ,Dein Reizdarm ist keine Einbildung, geh‘ zum Arzt und lass‘ Dich behandeln.‘

Es braucht sicherlich auch den Mut von Ärzten, die Diagnose auszusprechen. Uns ist mit der Studie, die kürzlich im Lancet veröffentlicht wurde, ein echter Durchbruch gelungen. Unser Präparat (Kijimea Reizdarm PRO) konnte gleich in zwei klinischen Studien zeigen, dass es wirksam ist. Das gibt uns die Zuversicht, unsere Forschungsanstrengungen signifikant zu erhöhen, etwa in den Bereichen Stuhltransplantation und Mikrobiom.

Thema Schmerzen: Bei etwa drei Millionen Betroffenen gibt es einen hohen Bedarf. Mit drei Vollextrakten, THC, CBD und der Kombination aus beidem, sind Sie bereits auf dem Markt. Jetzt wollen Sie, ich zitiere, eine „neue Klasse von Schmerzmitteln auf der Basis von Cannabis“ entwickeln. Was heißt das?

Wir haben seit 20 Jahren keine Innovationen im Bereich der Schmerztherapie. Es tut sich sehr, sehr wenig. Wir brauchen für diese Patienten nicht erst morgen, sondern heute ein Medikament. Die Bundesregierung hatte zunächst einen richtigen Schritt unternommen, in dem sie cannabishaltige Rezepturarzneimittel zur Behandlung von schwerkranken Patienten verschreibungsfähig gemacht hat, und die Krankenkassen auch die Kosten erstatten. Dennoch sind die Ärzte in der Haftung, sie müssen Anträge schreiben und sich mit der Krankenkasse herumschlagen. Was wir brauchen, sind klinische Daten zur Wirksamkeit und zur Sicherheit.

Wie zuversichtlich sind Sie? Wann ist mit einer Zulassung zu rechnen?

Wir stehen kurz vor Phase 3. Und wir glauben fest daran, das Arzneimittel 2022 oder 2023 zur Zulassung zu bringen. Dabei wünsche ich mir genau wie bei COVID-19, dass die Millionen Schmerzpatienten gehört werden, damit wir schnell eine Verbesserung ihrer persönlichen Lebenssituation erreichen können.

Scheuen Sie denn nicht das Verfahren, das Sie mit dem AMNOG-Prozedere, der frühen Zusatznutzenbewertung, durchlaufen müssen?

Nein, wir gehen hier kein Risiko ein, weil wir schon frühzeitig unsere Hausaufgaben gemacht haben. Wir sind sehr früh in den Abstimmungsprozess mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss gegangen. Danach ist ganz klar definiert, welche Punkte wir zeigen müssen, um einen Zusatznutzen anerkannt zu bekommen.

Nutzen eigentlich Ärzte die Unterstützung, die Ihr Unternehmen im Kontext des Antragsverfahrens – Stichwort Kostenerstattung – anbietet?

Ja, Ärzte nutzen das, aber nicht in dem Verhältnis, wie Patienten tatsächlich mit Cannabis behandelt werden. Wir interpretieren das so, dass sich die Ärzte schon sehr gut auskennen und nicht mehr die Unterstützung beim Antragsverfahren benötigen.

Wie ist denn grundsätzlich das Feedback aus der Ärzteschaft bei der Schmerztherapie mit Cannabis?

Bei Ärzten und Patienten ist der Wunsch nach einer neuen Klasse an Schmerzmitteln sehr stark ausgeprägt. Voraussetzung für eine Erstattung von Cannabis ist, dass die Patienten sozusagen austherapiert sind. Es profitieren auch nicht alle Patienten davon. Aber ein Großteil der Patienten, die seit Jahren starke Schmerzen haben – sieben oder acht von zehn Punkten auf einer NRS-Skala –, kommt auf unter vier und erfährt durch den Einsatz des Vollextrakts eine Schmerzreduktion von über 30 Prozent. Das wird auch von behandelnden Ärzten sehr positiv gesehen.

Neugierig macht ein weiteres Thema, wo es ebenfalls einen hohen Bedarf gibt, wenngleich in viel kleineren Gruppen. Es geht um seltene Erkrankungen. Hier wollen Sie Ihre Aktivitäten verstärken. Mit welchem Ziel?

Möglichst vielen betroffenen Patienten schneller zu helfen – schneller Arzneimittel auf dem Markt zu bringen, als das aktuell der Fall ist. Es gibt zwei oder drei kleinere Unternehmen, die hier sehr zügig arbeiten. Darauf wollen wir unseren Fokus richten.

Und an welche Indikationen denken Sie?

Glauben Sie mir, wir haben hier sehr gründlich recherchiert. Aber es wäre zu früh, jetzt schon mitzuteilen, welche Indikationen in Betracht kommen. Dazu bauen wir auch unsere Logistik aus, etwa in den USA und in Großbritannien, wo wir neue Büros eröffnen.

Eine persönliche Frage zum Schluss: Nervt Sie das eigentlich, immer wieder auf Ihre Kindheit angesprochen zu werden, als Sohn einer alleinerziehenden Krankenschwester aus kleinen Verhältnissen immer an der Seite der Mutter . . .

Ich muss sagen, dass mich die Diskussion über Chancengleichheit in Deutschland hier und da schon ärgert. Man kann auch unter etwas schwierigen Umständen in Deutschland viel erreichen. Ich will, dass man die Dinge auch einmal positiv betrachtet. Ohne Frage, ja, wir müssen an der Gerechtigkeit arbeiten, das ist doch selbstverständlich. Aber wir haben eine gute Chance – und gefühlt muss ich sagen, hat man manchmal vielleicht eine größere Chance, wirklich ein Kämpfer zu werden, wenn man das von Kindheit an gelernt hat.

Ich danke Ihnen für das Gespräch.

Die FUTRUE Gruppe

  • Branche: FUTRUE versteht sich als Inkubator für die Gesundheitstrends von morgen. Die FUTRUE Gruppe umfasst mittlerweile über 20 Unternehmen, die unter anderem in den Bereichen intelligente Bakterien, innovative Schmerztherapien, chemiefreie Arzneimittel, medizinisches Cannabis, Dermaceuticals, Functional Food und E-Health aktiv sind. Der Hauptsitz ist in Gräfelfing bei München
  • Mitarbeiter: 250, (150 offene Stellen)
  • Umsatz: 100 Millionen Euro im Jahr 2018
  • Führende Präparate: Kijimea® Reizdarm PRO, Vertanical Vollextrakt THC/CBD
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