Leitartikel

Erste Erfolge bei der Suche nach Strategien gegen Krankenhausinfektionen

Lange hat es gedauert, bis Klinikinfektionen als Politikfeld auch im Bundeskanzleramt angekommen sind. Ein zusammen mit der Charité und Verhaltensforschern initiiertes Präventionsprogramm gibt Anlass zu vorsichtigem Optimismus.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:

Schon vor 170 Jahren untersuchte der ungarische Arzt Ignaz Semmelweis die hohe Sterblichkeit von Frauen im Kindbett. Seine Studie in den Jahre 1847 und 1848 gilt als möglicherweise erste im modernen Sinne wissenschaftliche Überprüfung von Beobachtungen in der Medizin. Semmelweis ging davon, dass die jungen Mütter Opfer mangelnder Hygiene von Ärzten, Hebammen und Schwestern wurden. Seine Kollegen in der K.-u.-K.-Monarchie Österreich-Ungarn hielten das schlicht für "spekulativen Unfug", weil die klassische Lehre Keime als Krankheitsursache nicht aufführte.

Noch heute beschäftigt die Krankenhaushygiene Wissenschaftler und Politik. Gründe dafür gibt es genug. 400 000 bis 600 000 Menschen im Jahr infizieren sich laut Berechnungen des Nationalen Referenzzentrums für die Surveillance nosokomialer Infektionen an der Berliner Charité mit Krankenhauskeimen wie zum Beispiel dem Multiresistenten Staphylococcus Aureus (MRSA). Die Zahlen sind höchst unterschiedlich. Im Qualitätsbericht des Aqua-Instituts aus dem Jahr 2013 taucht die Zahl 975 000 auf. Die Bundesregierung selbst ist lange von 380 000 bis 430 000 ausgegangen – bis sie aus aktuellem Anlass die Zahlen der Charité übernommen hat. Als gesichert gilt vor allem ein relativer Wert: Ein Drittel der Krankenhausinfektionen ist nach Berechnungen des Nationalen Referenzzentrums vermeidbar.

Politiker sehen Handlungsbedarf

Die Auseinandersetzungen über das Infektionsgeschehen laufen seit Semmelweis‘ Zeiten sachlicher ab. Trotz der statistischen Unschärfen spricht niemand mehr von spekulativem Unfug. Die Krankenhaushygiene ist längst im politischen Raum angekommen. Immerhin hat es aber bis zum Jahr 2001 gedauert, bis die Seuchengesetzgebung von einem Infektionsschutzgesetz abgelöst worden ist. 2011 folgte ein Hygienegesetz.

Die aktuelle Große Koalition hat darauf aufsetzend ein 460-Millionen-Euro-Programm bis 2023 verabschiedet. Das Geld soll vordringlich denjenigen Kliniken zufließen, die die personellen und organisatorischen Vorgaben zur Vermeidung von nosokomialen Infektionen noch nicht erfüllen. Das sind nicht wenige. Der GKV-Spitzenverband sieht unter dieser Prämisse gleich zwei Drittel der Krankenhäuser in der Pflicht zu handeln. Diese Zahl deckt sich mit der Zahl der Krankenhäuser mit weniger als 400 Betten. Die sind von der Pflicht befreit, Krankenhaushygieniker anzustellen.

Schon der Blick zu den Nachbarn zeigt, dass andere Verhältnisse möglich sind. So haben Norwegen und die Niederlande eine um den Faktor zehn geringere MRSA-Durchseuchung als Deutschland. In den Niederlanden muss jedes Krankenhaus einen Hygieniker beschäftigen. Zudem werden alle Risikopatienten bei der Aufnahme auf antibiotikaresistente Keime getestet. Neuerdings sind die Krankenhausinfektionen als Politikfeld sogar im Bundeskanzleramt angekommen. Dort sind seit einiger Zeit Verhaltenswissenschaftler damit beschäftigt, Strategien zu entwickeln, wie sich ein Kulturwandel anstoßen lässt. "Wirksam regieren" nennt sich das Programm. Auch die Vereinfachung der Steuererklärung, die Kfz-Anmeldung, der Kleinanlegerschutz und die Anlageberatung werden dort behandelt.

Dass das Thema Krankenhaushygiene – offiziell: Patientenschutz im Krankenhaus–– dort aufgenommen ist, lässt durchaus den Rückschluss zu, dass die Wirksamkeit des Regierungshandelns an dieser Stelle zu wünschen übrig lässt. Das Regelwerk, das die Gesundheitspolitik der Großen Koalition unter Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) aufgestellt hat, wird damit jedoch nicht in Frage gestellt. "Es wurde ja vermutet, in Deutschland gebe es ein dramatisch anderes Regelwerk als in den Niederlanden", sagte der Minister zum Auftakt seiner Sommerreise in der Berliner Charité. Wenn man genau hinschaue, sei das allen Behauptungen zum Trotz aber gar nicht so.

Programm mit Verhaltenforschern

Es muss also an etwas anderem liegen. Die Verhaltensforscher aus dem Kanzleramt haben daher im Januar 2016 gemeinsam mit einer Intensivstation in der Charité ein auf zwölf Monate angelegtes Programm aufgelegt, das die Mitarbeiter als Team in die Organisation der Hygiene einbezogen hat. Der offene Umgang mit den Problemen, die Beteiligung aller, die Rückmeldung von Ergebnissen schafft offenbar Ergebnisse. Auch solche, die sich vergleichsweise leicht auf alle Krankenhäuser, Pflegeheime und natürlich auch die Praxen niedergelassener Ärzte übertragen ließen. Beispiel: Die Desinfektionsmittelspender auf der Station funktionieren berührungslos.Überhaupt werden alle Punkte, an denen Mensch und Hilfsmittel in Kontakt kommen, kritisch unter die Lupe genommen. Herausgefunden habe man zum Beispiel, dass die Verpackungen der Hygienehandschuhe selbst hoch verkeimt sind. Völlig unterhalb des Radars war geblieben, dass die Tastaturen der Rechner zu den am stärksten belasteten Flächen auf der Intensivstation überhaupt gehörten, sagen Teilnehmer des Projektes.

Der Anreiz, gemeinsam als Team eine Alltagskultur in Angriff zu nehmen, zeitigt Erfolge. Inzwischen läuft das Programm "Gemeinsam für Infektionsprävention" im Rahmen einer kontrollierten, randomisierten Feldstudie auf 100 Intensivstationen in ganz Deutschland. Die Bereitschaft, sich in den als notwendig identifizierten Arbeitssituationen die Hände zu desinfizieren, ist nach Auswertung erster Ergebnisse von 72 Prozent zu Beginn auf inzwischen 86 Prozent gestiegen. Von zehn notwendigen Desinfektionen werden also neun tatsächlich ausgeführt. Dieser Anstieg gilt als signifikant. Ab einer gemessenen Compliance von 80 Prozent sinken die Infektionsraten", sagt Privatdozent Steffen Weber-Carstens, der das Modellprojekt in der Charité geleitet hat. Die Sepsisrate ingesamt wird verringert.

Die mikro- und makroökonomischen Kosten der Krankenausinfektionen sind relevant. Ein Drittel der Aufwendungen von Intensivstationen entfallen nach Berechnungen von SepNet, eines vom Forschungsministerium geförderten Kompetenznetzes, auf die Behandlung von Patienten mit einer Sepsis. Die Summe dürfte jenseits der Zwei-Milliarden-Euro-Marke nur für die Intensivbehandlung liegen.

Hohe Zusatzkosten

Der Qualitätsbericht des Aqua-Instituts beziffert die zusätzlichen Kosten je betroffenem Patient mit einer nosokomialen Infektion aufgrund von längeren Liegezeiten und Zusatzbehandlungen auf zwischen 4000 und 20 000 Euro. Konkret hat die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene die Kosten einer Infektion mit dem immer aggressiver auftretenden Darmkeims Chlostridium difficile berechnet. Sie betragen rund 10 000 Euro. Damit rutsche der Deckungsbeitrag für einen solchen Patienten ins Minus, warnen DGKH-Vertreter. Wächst sich die Infektion zu einer Sepsis aus, stiegen die Kosten für einen überlebenden Patienten über 20 Jahre auf knapp 60 000 Euro, für einen versterbenden Patienten auf gut 50 000 Euro, hat das Jenaer Center of Sepsis Control and Care (CSCC) errechnet. Ausgehend von den epidemiologischen Fallzahlen seien das im Jahr 3,8 Milliarden Euro. Dazu kämen indirekten Kosten aufgrund vorzeitigen Todes von 2,4 Milliarden Euro. Eine weitere Zahl liefert das SepNet. Arbeitsausfall und vorzeitige Verrentung von Sepsis-Patienten kosteten die Allgemeinheit im Jahr 6,3 Milliarden Euro.

anno.fricke@springer.com

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