Oktoberfest

So arbeiten die Ärzte der Wies‘n-Klinik

Während Millionen Besucher das 183. Oktoberfest feiern, sichert das Rote Kreuz hinter den Kulissen die medizinische Versorgung. In seiner Notfallambulanz sind bis zu elf Notärzte und 130 Sanitäter im Einsatz.

Von Christina Bauer Veröffentlicht:
Party bis der Arzt kommt - nicht wenige Besucher des Oktoberfestes in München benötigen nach starkem Alkoholkonsum ärztliche Betreuung vor Ort.

Party bis der Arzt kommt - nicht wenige Besucher des Oktoberfestes in München benötigen nach starkem Alkoholkonsum ärztliche Betreuung vor Ort.

© Andreas Gebert / dpa

MÜNCHEN. Da marschieren sie, vom Regen unbeirrt: Münchner, Bayern, "Preißn", Besucher aus aller Welt, viele in Trachten, reihen sich an den Eingängen zur erstmals vollständig umzäunten Theresienwiese.

Nach den Ereignissen im Juli traute sich der ein oder andere Trachtenverein dieses Jahr nicht her, manchem Gast geht es ähnlich. Schüsse oder gar eine Bombenexplosion wie das Attentat 1980 – in solch einem Fall hätte die BRK-Notfallambulanz hinter dem Schottenhamel-Zelt an der Westseite des Geländes allen Grund, ihr Maßnahmenrepertoire für Großschadensfälle abzurufen.

Sehr viel wahrscheinlicher ist aber, dass sich die Ärzte und Sanitäter dort mit ähnlichen Blessuren befassen werden wie schon seit 130 Jahren. Also vor allem mit kleineren Schnitt- oder Platzwunden, kollabierenden Kreisläufen und Alkoholvergiftungen.

Die enorme Zeitspanne unterstreicht, dass das Rote Kreuz zum Oktoberfest gehört wie Dirndl und Lederhosen. "Es gibt keinen Dienst, keine Tätigkeit, die für den BRK-Kreisverband München eine so hohe Identifikation mit sich bringt wie das Oktoberfest", erklärt dazu Dr. Ulrich Hölzenbein, seit 2013 Chefarzt der Ambulanz.

Der Internist und Kardiologe sitzt an diesem Vormittag am Schreibtisch im Chefarztbüro, vor sich zwei Computerbildschirme, darüber den Dienstplan. Ursprünglich aus Duisburg, lebt er seit 25 Jahren in München und ist seit 1994 beim BRK, anfangs noch als Sanitäter am Hauptbahnhof, später als Arzt.

Sprechstunde für Kellnerinnen

Im Nebenraum koordiniert die Einsatzleitung die eingehenden Notrufe, im Moment ist es dort noch ruhig. Leerlauf herrscht aber nicht, denn: "Vormittags ist hier so eine Art Sprechstunde", so Hölzenbein. Kellnerinnen mit Sehnenscheidenentzündung, Schausteller mit Erkältung, Polizisten und Security-Personal, auch sie konsultieren bei Bedarf das BRK-Team.

"Da sind hier natürlich die Internisten besonders gefragt." Auch sonst schickt Hölzenbein die Fachärzte aus dem 70 Kollegen umfassenden Notarzt-Pool dorthin, wo die Patienten am meisten davon haben – Chirurgen zum Wunden nähen, Anästhesisten, die Vitalfunktionen überwachen.

Vom Feiern Lädierte landen ab mittags an. Zahl und Verletzungsschwere steigen mit dem Fortschreiten von Zeit und Alkoholkonsum. Gerade am Wochenende wird es erfahrungsgemäß meist turbulent.

Um dann noch den Überblick zu behalten, informiert seit 2015 über dem Zentralbereich der 750 Quadratmeter-Ambulanz ein großer Bildschirm über die Belegung der Plätze in den Behandlungseinheiten.

30 Sekunden für diagnostische Einschätzung

Der Chefarzt zeigt ihn als Auftakt zu einem Ambulanz-Rundgang, den auch BRK-Pressesprecher Michael Greiner begleitet. Im Moment leuchten die Rechtecke auf dem Schirm grün, nicht belegt.

Hölzenbein zeigt die Stelle im Zentralbereich, wo in den nächsten Stunden eine "Sichtung" eingerichtet werden soll. Dort sitzt dann ein Arzt, der darauf spezialisiert ist, für jeden Ankommenden innerhalb von 30 Sekunden eine diagnostische Einschätzung zu geben.

Dann geht es dem Bedarf entsprechend weiter. Meist führt der Weg nach rechts, in den Bereich, wo sich die Helfer kleineren Blessuren zuwenden. Viele von ihnen sind dort schon in angeregte Gespräche vertieft. Insgesamt ist heute die Maximalbesetzung von 130 Sanitätern verfügbar, dazu elf Notärzte. Das Kontrastprogramm am Montagvormittag: vier Notärzte.

Alle Behandlungskabinen im Raum sind gleich ausgerüstet, bis hin zur Sortierung von Spritzen und Kanülen in den Schränken. So findet sich jeder Helfer, einmal eingewiesen, leicht zurecht. Gleich dahinter ist ein steriler OP-Bereich.

"Die Haut, die zerschnitten ist, im Bereich von Hand oder Fuß, oder die Kopfplatzwunde, die beim Anstoßen entsteht, nähen wir hier zu", so Hölzenbein. Um Gefäße, Sehnen oder Bänder kümmern sich aber die Kliniken. Auf dem Weg hinaus wechselt der Chefarzt einige Worte mit dem Wachhabenden, der die Helfer koordiniert. Alles ruhig, wie er bestätigt.

700 Alkoholleichen

Nebenan: schwere, dunkle Fliesen. Ein säureresistenter Boden. Hier landen alle, die dem Bier – sieben Millionen Maß werden beim Oktoberfest konsumiert – im Exzess zugesprochen haben. Das sind zehn Prozent der Behandelten, also etwa 700.

Damit sie sich nicht verletzen, sind die Liegen nur 40 Zentimeter hoch und haben Seitenstützen. Vitalwerte-Monitor, Infusionen, zudem bei jeder Pritsche eine Heizung, mit Decke.

"Die Wärmedecke schließen wir hier an den Heizkörper an, damit wird der Patient dann von oben auf Körpertemperatur gewärmt", erklärt Nikolas Häckel vom DRK Kiel.

Das Fest ist friedlicher geworden

Ein Angebot zur Stabilisierung, ergänzt Hölzenbein, zum Ausnüchtern reicht die Zeit nicht. Alle Patienten sollen nach zwei Stunden versorgt sein, dass sie entweder nach Hause oder ins Krankenhaus transportiert werden können.

Jeder länger belegte Platz leuchtet auf dem Zentralmonitor rot. Mancher könnte dort womöglich öfter ein rotes Rechteck verursachen. Es gibt jedenfalls, wie der Chefarzt erzählt, gerade in der Überwachung den ein oder anderen "Stammgast".

Gegenüber, im Ruheraum, wo sich Patienten mit Blutdruck- oder Zuckerkrise stabilisieren können, üben zwei junge Sanitäter den Umgang mit dem Vitalwerte-Monitor. Etwa 7000, in Spitzenzeiten bis zu 10.000 Patienten werden hier in zweieinhalb Wochen versorgt.

Bei 2000 Einsätze wird der "Radwagen" benötigt, das sind fahrbare Liegen mit blick- und regensicherer, gelber Abdeckplane. Die vierköpfigen Radwagen-Teams, besetzt analog einem Rettungswagen, rücken aus, wenn es Patienten nicht selbst zur Ambulanz schaffen.

Nur in etwa jedem fünften Fall springt auch noch ein Notarzt ins Auto, um aufs Gelände zu fahren. In ihren Einsatzpausen haben die Helfer aber schon mal Zeit für ein Kartenspiel bei Kaffee im Bereitschaftsraum im Untergeschoss.

Weiße Luftballons zur Orientierung

Sanitäter aus ganz Deutschland von Aschaffenburg bis Kiel und einige Kollegen aus Österreich beteiligen sich an den über 2000 Schichten. Ein Großteil der Patienten sucht die Ambulanz oder die zwei kleineren BRK-Container auf dem Fest selbst auf.

Daher sind die Standorte weithin sichtbar durch weiße Luftballons mit roten Kreuzen markiert. Neben der Hauptambulanz gibt es weitere, wichtige Anlaufstellen, darunter die Polizei und eine Notfall-Beratung für Frauen.

Aggression, Schlägereien, gebrochene Nasen, das komme schon vor, so Hölzenbein. Aber im Vergleich zu früher sei die Wies'n ein ruhiger Ort. Der Meinung ist auch Pressesprecher Greiner.

"Wenn man bedenkt, vor Jahrzehnten haben schon auch mal Leute mit den schweren Tonkrügen aufeinander eingeschlagen und dann hat sich gleich das halbe Zelt geprügelt", stellt er fest. "So etwas gibt es heute nicht mehr."

Sogar der einst berüchtigte "Maurer-Montag" ist heute ein ruhiger Tag. Wie Hölzenbein ergänzt, zeigen neben dem verstärkten Sicherheitspersonal auch bauliche Verbesserungen in den Zelten Wirkung.

Insgesamt aber würden durch die Ambulanz pro Fest dennoch etwa 2500 externe Notarzteinsätze und Krankenhausbehandlungen vermieden. Die wären sonst kaum zu stemmen, so der Chefarzt. "Wenn wir an einem heutigen Samstag mal eben 200 Leute in die Krankenhäuser einweisen würden, würde es echt knapp."

Wobei es aussieht, als sollten es zumindest an diesem Samstag nicht ganz so viele werden. "Ich denke, das wird eine ruhige Wies'n", meint auch Karl-Heinz Demenat vom Vorstand des BRK München, der gerade vorbei schaut. Angst sei derzeit natürlich für viele ein Thema, stellt er fest. Er selbst habe aber in Bezug auf Wies'n-Besuche keine Sorge.

Etwa 100 Fälle lebensbedrohlich

In Lebensgefahr waren in den letzten Jahrzehnten die wenigsten Ambulanz-Patienten. "Es gibt pro Fest etwa 100 Fälle, die akut lebensbedrohlich sind", berichtet Dr. Jens Duersel-Mierswa, vom DRK Rheinhessen im Akutraum, der genauso wie ein Notarztwagen besetzt ist.

Die landen dann bei ihm und seiner Kollegin vom BRK München. Seit seinen ersten Wies'n-Einsätzen 1998 half Duersel-Mierswa schon bei Lungenkollaps und Mittelmeerfieber. Meist aber führt den Patienten ein Asthma-Anfall, Herzinfarkt oder Schlaganfall in den Akutraum, wo er bis zur Fahrt ins Krankenhaus stabilisiert wird.

Nach dem ersten Festwochenende sieht die Bilanz am Montag so aus: 670 Patienten (2015: 932), davon 353 ärztliche Versorgungen in der Ambulanz (2015: 416), 202 Radwagen-Einsätze (2015: 337) und 58 Alkoholvergiftungen (2015: 85).

100 Patienten wurden zur Weiterbehandlung ins Krankenhaus gebracht. Ein vergleichsweise ruhiges Fest also. Doch das zweite Wochenende folgt ja noch. Am 4. Oktober ist es dann zu Ende. Im Anschluss sind vor allem die Hausärzte gefragt, wenn die obligatorische Erkältungswelle um sich greift, der berüchtigte "Wies'n-Katarrh".

Arzt auf der Wies'n: "Wir lernen dauernd dazu"

Anschlagsängste halten dieses Jahr manchen vom Münchner Oktoberfest fern. Mit der "Ärzte Zeitung" sprach Dr. Ulrich Hölzenbein (45), Chefarzt der BRK-Notfallambulanz auf der Wies'n, über seine Arbeit und das schlechte Gefühl, das bei manchen Gästen mitfeiert.

Das Interview führte Christina Bauer

Ärzte Zeitung: Sie haben hier eine umfangreiche Notfallambulanz. Was ändert sich sich im Vergleich zu den Vorjahren?

Ulrich Hölzenbein: Es gibt jedes Jahr Änderungen beim BRK-Einsatz. In den letzten Jahren war zum Beispiel Hygiene ein wichtiges Thema, dass alle Vorgaben erfüllt sind.

Davor standen für einige Jahre diagnostische Themen im Vordergrund. Alles muss da sein, EKG, Ultraschall, Blutentnahmen, alle verfügbaren Möglichkeiten.

Hat sich im Kontext der Angriffe im Juli, etwa beim Olympiaeinkaufszentrum etwas geändert?

Hölzenbein: Wir haben uns nun auch auf Großschadensereignisse eingestellt, uns noch mal speziell aufgestellt, neues Material beschafft. Wir lernen medizinisch dauernd dazu.

Welche Neuerungen gibt es in diesem Bereich konkret?

Hölzenbein: Oberste Priorität bei Schussverletzungen ist beispielsweise, die Blutung zu stoppen und den Patienten so schnell wie möglich in die Klinik zu bringen. Dazu haben wir uns einer Maßnahme bedient, die wir in der Ersten Hilfe vor 30 Jahren aus den Lehrbüchern gestrichen haben.

Damals hat man den Gürtel genommen und die Gliedmaßen abgebunden. Dann hieß es viele Jahre: ,Nein, das machen wir nicht.‘ Aber bei Schussverletzungen, oder sagen wir einfach, Kriegsverletzungen, ist das ein exzellentes Mittel. Das müssen wir den Leuten erstens sagen, und dann auch beibringen.

Ich war während meiner Ausbildung in Südafrika, in Soweto, wo es öfter Menschen mit Gewaltverletzungen zu behandeln gab, Schusswunden, Stichwunden. Das war vor 16 Jahren, ist also auch für mich lange her. Aber ich weiß, wie so etwas aussieht, wie sich das anfühlt, um welche Verletzungen es sich handelt.

Also sind die bis zu 100 Sanitäter hier auf die Behandlung von Schussverletzungen vorbereitet. Auch auf Verletzungen durch eine Bombenexplosion, wie es 1980 mal eine auf dem Oktoberfest gab?

Hölzenbein: Tatsächlich sind die Verletzungsmuster bei Schusswunden und Explosionen ähnlich. Bei einem Großschadensereignis ist für uns dann auch wichtig, wie Abläufe im Notdienst umgestaltet werden. Das wird im Vorhinein alles durchdacht und durchgespielt.

Es gäbe dann im Schadensfall eine Einteilung in rote, gelbe und grüne Patienten. Die Schwerstverletzten, die Roten, würden wir möglichst schnell einer möglichst kurzen medizinischen Intervention zuführen, damit sie danach den Weg bis ins Krankenhaus überleben können, wo sie weiter versorgt werden.

Ein grüner Patient wäre dann zum Beispiel jemand, der einen abgerissenen Finger und eine blutende Platzwunde am Kopf hat. Das ist nicht lebensbedrohlich. Die Patienten würden der Reihe nach auf die umliegenden Kliniken verteilt.

Auf bestimmte Krankenhäuser, oder auf alle, je nach Kapazität?

Hölzenbein: Auf alle, je nach vorhandenen Kapazitäten und Gewährleistung der erforderlichen Behandlungsmaßnahmen, wobei manche Krankenhäuser besonders geeignet sind. Die Chirurgische Klinik Rechts der Isar zum Beispiel wäre ideal, um viele Patienten mit solchen Verletzungen zuzuweisen.

Auch die Krankenhäuser haben im Kontext der letzten Angriffe reagiert. Sie hatten teilweise sowieso vorher schon Kapazitäten durchdacht und bereitgestellt. Es gibt Kliniken, die können im Bedarfsfall einen roten Patienten aufnehmen, und solche, die zehn aufnehmen können, wie beispielsweise die Klinik Rechts der Isar.

Die haben sozusagen ihre Hausaufgaben in diesem Bereich schon gemacht. Was uns der Angriff im Juli aber auch gezeigt hat, ist, dass alles gut funktioniert hat, und dass schnell reagiert wurde, innerhalb von eineinhalb Stunden. Das alles hätte auch dann noch gut funktioniert, wenn es noch eine zweite und eine dritte Anschlagsstelle gegeben hätte.

Bei diesem Oktoberfest sind die Besucherzahlen nun um einiges geringer als voriges Jahr, teilweise wegen der Sorgen mit Blick auf einen möglichen Angriff. Denken Sie, das normalisiert sich in absehbarer Zeit wieder?

Hölzenbein: Wenn man sich das Beispiel des Bombenanschlags von 1980 anschaut, da waren 1981 viel weniger Leute auf der Wies'n. 2001, nach dem Anschlag in New York am 11. September, ebenfalls.

Aber solche Ereignisse verblassen mit der Zeit. Ich denke, die Situation hier beim Oktoberfest wird sich nächstes Jahr normalisieren.

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