Beschneidungsurteil: Ärzte stoppen Eingriffe

Das Kölner Beschneidungsurteil hat enorme Auswirkungen. Tiefe Verunsicherung wird deutlich. Ärzte beschneiden nicht mehr. Jüdische und muslimische Familien stecken im Dilemma.

Von Yuriko Wahl-Immel Veröffentlicht:

KÖLN (dpa). Der muslimische Kinderchirurg Dr. Hikmet Ulus aus Köln beschneidet kleine Jungen seit ziemlich genau vier Wochen nicht mehr. "Nach dem Urteil habe ich 30 religiös motivierte Beschneidungen abgesagt. Bei meinen Kollegen ist es genauso. Wir würden riskieren, uns strafbar zu machen."

Das Kölner Landgericht hatte die Beschneidung eines muslimischen Jungen aus religiösen Gründen jüngst als eine strafbare Körperverletzung bewertet. Seit einem Monat ist das Urteil bekannt, hat eine Schockwelle, Proteste, internationale Empörung ausgelöst - und auch für große Verunsicherung bei Ärzten sowie jüdischen und muslimischen Familien gesorgt.

"Scharlatane reiben sich schon jetzt die Hände"

"Ich hoffe, dass wir bald eine klare Situation bekommen und bis dahin möglichst wenige Kurzschlusshandlungen passieren", betont Ulus. "Ich habe Vertrauen, dass meine Patienten auf Rechtssicherheit warten und später zu mir kommen." Aber: "Scharlatane reiben sich schon die Hände. Der Eingriff wird jetzt illegal von Möchte-Gern-Beschneidern gemacht. Davon können Sie zu hundert Prozent ausgehen."

Bei den Ärzten ruht das OP-Besteck für rituelle Beschneidungen weitestgehend. Aktuell wagt kaum jemand den Eingriff.

"Wir haben keine statistischen Erhebungen, aber ich gehe davon aus, dass wir Stillstand haben und diese Eingriffe zunächst auch weiterhin unterbleiben werden", sagt Rudolf Henke vom Vorstand der Bundesärztekammer.

Bei den Urologen-Verbänden heißt es: totale Zurückhaltung. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass jetzt noch ein Urologe dieses Risiko eingeht", bestätigt Dr. Wolfgang Bühmann vom Berufsverband der Deutschen Urologen. Auch die ganz überwiegende Mehrheit der niedergelassenen Kinderchirurgen nehme keine religiös begründeten Beschneidungen mehr vor, glaubt Sprecher Dr. Karl Becker.

Debatte weiter aufgeheizt

Die Debatte ist aufgebracht. Viele sehen einen Anschlag auf die Religionsfreiheit, auf jüdisches und muslimisches Leben insgesamt. Nach Empörung und Protest gegen das Urteil mehren sich aber auch Stimmen, die den Eingriff klar ablehnen.

Vor allem Kinderärzte und Kinderschutzorganisationen warnen, mögliche seelische und körperliche Folgen für die Jungen nicht zu bagatellisieren. Die Unversehrtheit des Minderjährigen müsse Maß aller Dinge sein.

Die Politik will für rechtliche Klarheit sorgen. Der Bundestag hat erklärt, die rituelle, medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen solle straffrei gestellt werden, die Regierung möge dazu ein Gesetz vorlegen.

Bis dahin bleibt es beim Dilemma. "Manche Familien werden zur Beschneidung häufiger in die Türkei fahren", sagt Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime. "Es gibt auch Familien, die nach den vereinzelten Ärzten suchen, die dem Urteil trotzen und die Beschneidung weiter anbieten."

Und: "Man kann nicht ausschließen, dass einige zu Laien gehen." Damit werde Beschneidung zum Gesundheitsrisiko. In Deutschland leben gut vier Millionen Muslime, die meisten stammen aus der Türkei, wo der Eingriff meist bis zum Grundschulalter erfolgt.

Die frühere SPD-Islambeauftragte Lale Akgün sieht dagegen keine gewaltige Auswirkung. "Die meisten Familien fahren für den Eingriff sowieso in den Sommerferien in die Türkei und feiern den Ritus dort." Sie hält die Tradition für nicht zeitgemäß.

"Die Beschneidung ist eine Sitte, die auch etwas Machohaftes hat. Mann-Werden unter Schmerzen. Wir sollten das Urteil als Chance nutzen und reflektieren, was wir den Jungen antun. In der Türkei gibt in intellektuellen Kreisen längst die Debatte, die Jungen nicht mehr zu beschneiden."

Auch nach dem Urteil nehmen Mohelim ihre Aufgaben weiter wahr

Nach jüdischer Tradition soll die Zeremonie am achten Lebenstag stattfinden. Und die Beschneidung als fester Bestandteil der jüdischen Religion werde auch weiter durchgeführt, erklärt Stephan Kramer, Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Die rituelle Handlung nehme meist der jüdische Kultusbeamte - der Mohel - vor. Aber auch Mediziner dürfen laut Zentralrat beschneiden - der Arzt müsse sich aber "der Tatsache bewusst sein, eine kultische Handlung auszuführen".

Auch nach der Gerichtsentscheidung aus Köln nähmen Mohelim ihre Aufgaben weiter wahr, sagt Kramer. Das Jüdische Krankenhaus Berlin hat dagegen entschieden, bis auf weiteres keine religiös begründeten Beschneidungen an Jungen mehr vorzunehmen.

Mit dem angestrebten Gesetz wagt sich die Politik an eine "alles andere als triviale Aufgabe", meint Henke. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Kindeswohl, Religionsfreiheit und das Recht der Eltern auf Erziehung müssen abgewogen werden.

Sollte die Religionsfreiheit über das Kindeswohl gestellt werden, rechnen Fachleute wie Akgün und Bühmann mit Protesten und Klagen. In der Beschneidungsfrage steht die Politik vor einer schwierigen Operation. (dpa)

Informationen zur Beschneidung vom Berufsverband der Deutschen Urologen Zentralrat der Juden zur Beschneidung

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