Interview mit Gesundheitsweisem Gerlach

„Datenschutz darf keine Leben kosten“

Beim Datenschutz nicht ausbalanciert: Die elektronische Patientenakte werde kaum wie geplant funktionieren, warnt der oberste Gesundheitsweise Professor Ferdinand Gerlach.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:
„Datenschutz darf keine Leben kosten“

© Stephanie Pilick / dpa

Ärzte Zeitung: Kommende Woche veranstaltet der Sachverständigenrat Gesundheit den Workshop „Daten teilen – besser heilen?“. Lassen sich mit geteilten Daten Krankheiten heilen?

Professor Ferdinand Gerlach: Das ist ein Thema, das viele bewegt. Wir haben 450 Anmeldungen. Mit einem solchen Ansturm hatten wir nicht gerechnet. Unsere Antwort ist eindeutig: Ja, man kann, wenn man Gesundheitsdaten teilt, besser heilen.

Nennen Sie uns ein Beispiel.

Wir wissen heute, dass es nicht eine Krankheit Brustkrebs gibt. Dahinter verbergen sich mindestens 60 verschiedene Formen, die jeweils unterschiedliche Therapien erfordern. Viele Krankheitsbilder und ihre Versorgung stellen sich somit heute sehr viel komplexer dar als früher. Wenn man sich vorstellt, dass Patienten zudem mehrere chronische Erkrankungen haben mit dementsprechend vielen medikamentösen und nicht medikamentösen Therapien, dann wird klar, dass sich diese Komplexität nur noch mit einer strukturierten Datenverarbeitung bewältigen lässt.

Das Thema wird in Deutschland kontrovers diskutiert. Davon zeugt auch der aktuelle Gesetzentwurf eines Patientendatenschutzgesetzes (PDSG). Eine Forsa-Umfrage hat bereits 2019 ergeben, dass 79 Prozent der Menschen in Deutschland ihre Gesundheitsdaten der Forschung zur Verfügung stellen würden. Warum springt man auf diese Zustimmungswerte nicht einfach auf?

Das ist eine gute Frage. Datenschutz, wenn er übertrieben ist, ist ja auch Tatenschutz und darf keine Menschenleben kosten. Es geht dabei nicht nur um die Forschung. Es geht auch um die Versorgung, um Qualitätssicherung, um bessere Diagnostik und Therapie. Dafür brauchen wir die Daten. Die strukturelle Abschottung von niedergelassenen Praxen und Kliniken, der Faxstandard in der ärztlichen Kommunikation und die Zettelwirtschaft behindern genau das, was wir jetzt für eine gute Medizin mehr denn je benötigen.

Und was wäre das?

Ein Denken in Versorgungsprozessen, das Überwinden von Grenzen zwischen den Sektoren, Fachdisziplinen und Berufsgruppen. Das spüren auch die Patienten. Sie wissen, dass Ärzte sie besser behandeln könnten, wenn ihnen möglichst alle Informationen über einen Patienten zur Verfügung stünden. Deshalb ist die Zustimmung in der Bevölkerung auch so hoch. Wir haben in Deutschland allerdings mehr als in anderen Ländern eine risikoorientierte Diskussion. Wir sprechen mehr über die Probleme als über die Chancen. Da wünschen wir uns als Sachverständigenrat eine bessere Balance.

Ab 2021 müssen die Kassen den Versicherten elektronische Patientenakten (ePA) anbieten. Mit dem PDSG würden sie Herren ihrer Daten, wirbt die Politik. Ist das so?

Zunächst klingt das ja gut. Der derzeitige Gesetzentwurf macht aus unserer Sicht aber mehr Probleme als notwendig. Wenn das alles so kommt wie beabsichtigt, wird es kaum funktionieren können. Geplant ist ja ein vierfaches Opt-in. Der Versicherte muss entscheiden: Will ich überhaupt eine ePA, welche Ärzte und weitere Leistungserbringer dürfen diese mit Daten befüllen, welche Ärzte dürfen welche Informationen einsehen und will ich meine Daten für die Forschung spenden? Diese hohen Hürden, die gerade aufgebaut werden, werden nach unserer Einschätzung und gemäß internationaler Erfahrungen dazu führen, dass das Konzept im Alltag in Deutschland nur schwer umsetzbar ist.

Was schlagen Sie vor?

Wir sind für einen doppelten Opt-out. Jeder Bürger sollte zunächst automatisch eine elektronische Patientenakte erhalten. Die Akte soll er aber ablehnen dürfen. In skandinavischen Ländern und in Estland wird das zum Beispiel mit großem Erfolg genau so gemacht. Dort betragen die Ablehnungsquoten nur ungefähr 0,5 Prozent der Bevölkerung.

... und die zweite Option?

Der Versicherte bekommt die Möglichkeit, Teile der Akte so zu verschatten, dass Leistungserbringer nicht sehen können, was drinsteht. Wir halten es nicht für sinnvoll, dass Versicherte Teile ihrer Akten komplett löschen können, wie das im Moment im Gesetzentwurf vorgesehen ist. Dann kann ich als Arzt nicht erkennen, dass da mal etwas gestanden hat, was unter Umständen lebenswichtige Informationen enthielt.

Ist Daten löschen unsolidarisch?

Wir sehen es tatsächlich so, dass es eine Pflicht zur Solidarität bezogen auf die Datennutzung geben könnte. Seit 2004 werden ja bereits ohne Probleme alle Abrechnungsdaten der Forschung zugänglich gemacht. Das müsste auch für Behandlungsdaten gelten. Und zwar immer dann, wenn diese Daten aus solidarisch finanzierter Gesundheitsversorgung generiert worden sind. Blutbilder oder Röntgenaufnahmen zum Beispiel, die von der Solidargemeinschaft finanziert worden sind, sollten ihr auch für patientenwohldienliche Forschung zur Verfügung stehen. Warum sollte die Solidargemeinschaft einem Patienten zum Beispiel eine sehr teure Therapie bezahlen, etwa eine Immuntherapie oder eine Lebertransplantation, und anschließend nicht erfahren dürfen, ob diese Therapie tatsächlich wirkt.

Über das geplante Datenforschungszentrum soll es doch Zugänge zu den Daten aus der ePA geben ...

Dafür muss es geregelte Verfahren geben, die der Gesetzgeber beschreiben muss. Die Daten sollten zum Beispiel möglichst pseudonymisiert, nicht anonymisiert werden. Bei neuen Erkenntnissen müssen sie im Interesse der Patienten zurückverfolgt werden können. Die strafrechtlich abgesicherte Schweigepflicht muss dafür erweitert werden. Kommissionen könnten unter ethischen, datenschutzrechtlichen und anderen Aspekten entscheiden, wer wann auf diese Daten zugreifen darf und für welchen Zweck. Auch forschende Unternehmen sollten in diesem Regelwerk einen definierten Zugang erhalten. Denn: Wer sonst soll neue Arzneimittel entwickeln, die wir für die Therapie von Krankheiten wollen?

Spätestens im zweiten Halbjahr 2020, während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, wird ja über die Erweiterung der Datenräume Richtung Europa gesprochen werden. Droht damit ein Aufweichen des Datenschutzes?

Nein, die Datenschutzgrundverordnung gilt in der ganzen Europäischen Union gleich. Wir sind ja in den verschiedenen Digitalisierungsrankings oft auf den hinteren Plätzen. Aus dieser digitalen Rückständigkeit könnten wir jetzt Vorteile ziehen. Wir können schauen, was bei den anderen funktioniert hat und was nicht und so unsere eigenen Ansätze optimieren. Da Menschen aus Deutschland auch im europäischen Ausland behandelt werden und Menschen von dort bei uns, sollten wir Teil des Europäischen Datenraums sein und diesen aktiv mitgestalten. Es sollten nicht nur die IBAN-Nummern für die Überweisung von Geld innerhalb Europas funktionieren, sondern wir sollten eine ähnliche Systematik auch für die Übertragung von Gesundheitsdaten bekommen, um zukünftig auch im Ausland bestmöglich behandelt werden zu können.

Wird die Nutzung von Gesundheitsdaten eine Leistungsexplosion in der Forschung auslösen? In welchen Zeiträumen müsste man das denken?

Ich bin derzeit skeptisch, ob die Politik den Vorschlägen des Sachverständigenrates folgen wird. Ich befürchte, dass wir in Deutschland zunächst eine sehr restriktive Haltung einnehmen werden. Frankreich hat das auch so gemacht und beginnt jetzt nach zehn Jahren umzusteuern. Sollte es allerdings gelingen, die Daten frühzeitig in die Forschung zu bekommen, dann könnten Patienten schon kurzfristig davon profitieren. Ich spreche nicht nur von der klinischen Forschung, sondern auch von Versorgungsforschung und Qualitätssicherung.

Aus Versorgungsdaten lassen sich Rückschlüsse auf Versorgungsqualität ziehen ...

Für manche mag das ja als ein Risiko erscheinen. Für Patienten, die nach der besten Klinik zur Behandlung ihrer Krankheit suchen, ist das ein Vorteil. Wir wissen, dass Patienten mit seltenen Erkrankungen oder bestimmten Tumoren in Zentren besser behandelt werden. Deshalb kann es gar keine Frage sein, ob man diese Möglichkeit nutzt, oder nicht. Daten sind ein scharfes Schwert im Kampf gegen Krebs und andere Erkrankungen. Es wäre fahrlässig, sie nicht für die Forschung und gesundheitliche Versorgung im öffentlichen Interesse zu nutzen. Wir haben nicht nur das Risiko, dass Daten gehackt und missbraucht werden könnten, sondern auch das Risiko der Unterlassung, wenn wir vorhandene Daten im Interesse der Patienten nicht bestmöglich nutzen.

Herr Professor Gerlach, wir danken Ihnen für das Gespräch.

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