Europäischer Gesundheitskongress
EU geht mit Milliardenpaket Arznei-Engpässe an
Wie lässt sich die Versorgung mit ausreichend Arzneimitteln sicherstellen? Die EU hat Pläne dazu erarbeitet.
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Abbau von Monopolen und Diversifikation der Produktion sind nur zwei Maßnahmen, um Arzneilieferengpässen vorzubeugen.
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München. Die Entwicklung einer Strategie zur Sicherung der Versorgung mit Arzneimitteln und Medizinprodukten hat vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie einen hohen Stellenwert im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft erreicht.
Mit einem zweistelligen Milliardenbetrag für den Gesundheitsbereich und die Entwicklung von Impfstoffen gegen COVID-19 unternimmt die EU einen historisch einmaligen Kraftakt, wie bei einer Online-Veranstaltung im Rahmen des Europäischen Gesundheitskongresses deutlich wurde.
EU will eigenen Gesundheitsdatenpool
So verfolge das EU-Parlament (EP) einmütig das Ziel, für Investitionen im Gesundheitsbereich aus dem Wiederaufbaufonds für die nächsten Jahre rund zehn Milliarden Euro bereitzustellen, sagte Professor Angelika Niebler, Vorsitzende des EP-Ausschusses Industrie, Forschung und Energie. Mit weiteren 14 Milliarden Euro soll die EU die Impfstoffentwicklung und –produktion fördern.
Mit Praktikern wolle das Parlament in einen Diskurs über die Korrekturbedürftigkeit der europäischen Datenschutzgrundverordnung treten, ferner soll ein EU-eigener Gesundheitsdatenpool geschaffen werden, um mehr Unabhängigkeit gegenüber den dominanten US-Unternehmen zu gewinnen.
Arzneiversorgung: Keine Renationalisierung angestrebt
Zur Sicherung der Arzneimittelversorgung strebe die EU keine Renationalisierung der Produktion an, sondern mehr Souveränität durch Diversifikation der Produktionsstandorte. Aus der ersten Pandemiewelle im Frühjahr, bei der es angesichts von Engpässen bei Schutzmaterialien zu Lieferverboten ins Ausland kam, habe man sehr schnell die Lehren gezogen und inzwischen die grenzüberschreitende Zusammenarbeit deutlich verbessert, betonte sie.
Die Sicherstellung der Versorgung mit innovativen, patentgeschützten Arzneimitteln sei in der ersten kritischen Phase der Pandemie zwischen März und Juni nie ein Problem gewesen, sagte der Präsident des Verbandes forschender Pharma-Unternehmen, Han Steutel.
Bei der Entwicklung und der Produktion von Impfstoffen sei Europa führend, allein in Deutschland existierten dafür 62 Standorte. 70 bis 80 Prozent der Impfstoffentwicklung und -herstellung weltweit stammten schon vor der COVID-19-Pandemie aus der EU, so Professor Karl Broich, Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM).
Rückverlagerung nach Europa nicht so einfach
Boehringer Ingelheim beispielsweise investiere „massiv“ in die europäischen Forschungs- und Produktionsstandorte, schwerpunktmäßig auch in Deutschland, betonte die Leiterin des Deutschlandgeschäfts, Dr. Sabine Nikolaus. Dies, obwohl die Forschungsförderung in Deutschland bei weitem nicht das Niveau von Frankreich oder Österreich erreiche.
Generell seien aber Forschung wie auch Produktion international stark vernetzt, und für Europa gehe es primär darum, im Weltmaßstab das erreichte Niveau zu erhalten. Eine Rückverlagerung von Produktionen aus dem asiatischen Raum sei ohne Anreize für Investitionen und deutliche Modifikationen an den Rabattverträgen – Mehrfachverträge, Berücksichtigung der Liefersicherheit und Qualität – nicht möglich.
Nicht jeder Lieferengpass ein Risiko für Versorgung
Ein beim BfArM konstituierter Beirat aller versorgungsrelevanten Stakeholder hat die Probleme laut Broich und Steutel inzwischen konkretisiert: Monopole, primär bei generischen Produkten aus asiatischer Produktion oder auch aus Italien – Beispiel Propofol –, die bei Qualitätsmängeln in der Produktion oder unerwartetem Nachfrageanstieg die Versorgung gefährden.
Nicht jeder der 270 aktuell festgestellten Lieferengpässe führe jedoch zu einem Risiko für die Versorgung, so Steutel. 22 Substanzen seien inzwischen vom Beirat als kritisch definiert worden. Primär dafür müsse nun aktuell an der Robustheit der Lieferketten gearbeitet werden. Dagegen erfordere der Aufbau einer Produktion in Europa einen Jahre dauernden Prozess.
Vor dem Hintergrund der Erfahrung mit Versorgungsengpässen habe Bayern sehr schnell reagiert und ein Pandemie-Zentrallager mit wichtigen Medizinprodukten, Labor- und Intensivausstattung zur Bevorratung aufgebaut, sagte Bernhard Seidenath, Vorsitzender des Gesundheitsausschusses des bayerischen Landtags.
Er plädiert dafür, Teile der Produktion von Arzneimitteln und Medizinprodukten aus Asien in die EU zurück zu verlagern. Das müsse nicht nur für Antibiotika, sondern auch für andere essenzielle Wirkstoffe gelten. (HL)