Gewalt in der Pflege

"Es geht darum, sich gegenseitig zu schützen"

Wo beginnt Gewalt am Krankenbett und wie kann man alle Beteiligten davor schützen? Die "Ärzte Zeitung" sprach mit Gesundheitswissenschaftlerin Roscha Schmidt von der Caritas Altenhilfe in Berlin – seit Jahren Expertin für das Thema Gewalt.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:

Ärzte Zeitung: Frau Schmidt, wo beginnt Gewalt am Kranken- oder Pflegebett?

Roscha Schmidt

» Gesundheitswissenschaftlerin

» Caritas Altenhilfe Berlin

» Leiterin des Projekts Gewaltprävention in vollstationären Pflegeeinrichtungen

Schmidt: Sie beginnt mit Vernachlässigung oder dann, wenn Pflegende Patienten etwa aus Ärger schaden wollen und zum Beispiel die Klingel wegnehmen oder nicht mehr auf die Rufe der Patienten reagieren.

Gerade aus Notaufnahme hört man, dass auch die Patienten immer gewalttätiger werden.

Natürlich kann Gewalt auch von Patienten ausgehen, ebenso wie von Pflegenden oder Ärzten. Der Konflikt kann auch unter Beteiligung beider eskalieren.

Sie haben in Ihren Einrichtungen 2011 ein Projekt zur Vermeidung von Gewalt eingerichtet. Was haben Sie getan?

Wir haben in Zusammenarbeit mit Professor Karl H. Beine, einem Experten auf dem Gebiet der Gewaltprävention, Professor Dr. Ralf-Bruno Zimmermann, einem Arzt für Psychiatrie und Sozialmedizin und der Berliner Beratungsstelle "Pflege in Not" ein Konzept zur Prävention und Früherkennung von Gewalt entwickelt. Dabei haben wir vier zentrale Problembereiche identifiziert.

So haben wir zunächst Workshops mit Professor Beine durchgeführt. Danach wurden alle Führungskräfte unserer Einrichtungen mehrtägig durch Pflege in Not qualifiziert. In den Schulungen haben wir die Angst abgebaut, hinzuschauen und wirklich zu sehen, was passiert. Denn ein wichtiger Schutz besteht, wenn Gewalt für möglich gehalten wird. Pflegende können sich einfach Gewalt gegenüber den ihnen Anvertrauten nicht vorstellen – und übersehen die Gewalt, wenn sie dennoch geschieht.

Des Weiteren beobachten wir systematisch die Medikamentenbestände und werten alle Todesfälle aus. Die Daten sollen frühzeitig auf Unregelmäßigkeiten hinweisen. Jedoch wirkt auch das Vorhandensein bereits präventiv, da die Pflegekräfte darüber Bescheid wissen. Und zusätzlich haben wir den Mitarbeitern eine Plattform zur Verfügung gestellt, auf der sie anonym oder namentlich über Gewaltvorfälle berichten können, die sie in der Einrichtung nicht ansprechen konnten.

Wie haben die Mitarbeiterinnen am Pflegebett reagiert?

Zuerst war es sehr schwer. Viele Mitarbeiterinnen fühlten sich unter Generalverdacht. Ich habe das Ziel der Gewaltprävention bei uns dann umformuliert: Es geht darum, sich gegenseitig davor zu schützen, in Aggression und Gewalt abzurutschen. Diese Perspektive empfinden die Mitarbeiter entlastend und unterstützend. Das Verständnis für die Instrumente der Gewaltprävention ist dadurch sehr gewachsen.

Haben die Mitarbeiter den Unterschied zwischen Beschuldigung und Schutz verinnerlicht?

Nun, das ist ein zartes Pflänzchen. Wir müssen uns weiterhin geduldig gegen eine Sozialisation wenden, die mit Beschuldigung und Verurteilung arbeitet. Es überzeugt dann die Mitarbeiter, wenn wir bei Vorkommnissen von Aggressionen nicht einfach die Lebensgrundlage einer Mitarbeiterin entziehen und sie feuern, sondern das Gespräch mit den betroffenen Mitarbeitern suchen, fragen, weshalb sie so reagieren und Unterstützung anbieten, um eine Wiederholung zu vermeiden. Das hat eine enorme Wirkung in die Einrichtung hinein.

Welchen Einfluss hat das Hinsehen bei Gewalt auf die Kollegialität?

Da hatte ich große Bedenken. So haben wir in drei Einrichtungen auch anonyme Meldesystem installiert. Und in den Einrichtungen kam die Sorge auf, dass das große Denunzieren beginnen könnte. Aber bis heute gab es keine einzige Meldung. "Das können wir doch untereinander besprechen", sagten mir die Mitarbeiterinnen. Das heißt, mit den Seminaren haben wir eine neue Offenheit geschaffen.

Wie werden Sie weiter das Thema verfolgen?

Jetzt wollen wir das Thema Gewaltprävention zweimal jährlich in die Sitzungen der Pflege und Betreuung einbringen. Außerdem haben wir einen Leitfaden entwickelt: Er zeigt, wie ein Gespräch über Gewalt unter Kolleginnen geführt werden sollte: Welche Zimmer suche ich ungern auf? Über welche Bewohner oder Patienten oder Angehörige habe ich mich geärgert? Welche Aufgaben in der Arbeit mag ich nicht oder kann sie nicht vergessen? Was stresst und überfordert mich? Was kann ich konkret tun und wie können mich die anderen unterstützen, damit ich nicht in Aggressionen oder sogar Gewalt abrutsche?

Lesen Sie dazu auch: Deeskalationstraining: Gewalt, Aggression, Macht und Ohnmacht in der Klinik

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