Psychiatrische Versorgung
Für mehr Durchblick im SGB-Dschungel
Die psychiatrische Versorgung, insbesondere schwer und chronisch erkrankter Menschen, leidet unter Zersplitterung. Mit einem Projekt des GBA-Innovationsfonds soll ein Modell geschaffen werden, das als Blaupause für eine Gemeindepsychiatrie mit komplexen Leistungen aus einer Hand in der Regelversorgung des SGB V dienen soll.
Veröffentlicht:Berlin. Menschen, die schwer und chronisch psychisch oder psychiatrisch erkrankt sind, stehen vor einer schier unüberwindbaren Herausforderung: Bei reduzierter Autonomie Leistungsansprüche aus den Sozialgesetzen zu realisieren.
Denn der Gesetzgeber hat diese Ansprüche und deren Finanzierung in verschiedenen Sozialgesetzbüchern auf die unterschiedlichsten Kostenträger verteilt: Kranken-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung sowie Kommunen.
Sozialversicherungsfachangestellte, ausgebildet und regelhaft tätig in einem bestimmten Zweig der Sozialversicherung, kennen sich im eigenen Beritt aus, nicht aber in angrenzenden Rechtskreisen des Sozialstaats. Eine kafkaeske Situation für psychisch kranke Menschen.
Zwölf Modellvorhaben werden gefördert
Auf der Basis von Paragraf 64bSGBV fördert der Gemeinsame Bundesausschuss nun zwölf Modellvorhaben zur Versorgung psychisch kranker Menschen. Im Mittelpunkt stehen dabei multiprofessionelle Teams in der gemeindepsychiatrischen Basisversorgung mit Anker- und Lotsenfunktion für diese Patienten.
Diese Teams sollen in einem standardisierten Assessment den individuellen Behandlungs- und Betreuungsbedarf aus allen psychiatrischen und psychosozialen Leistungsbereichen ermitteln und gemeinsam mit den Betroffenen passgenaue Hilfen suchen.
Hinzu kommen Krisendienste für Akutinterventionen, die rund um die Uhr zur Verfügung stehen sollen. Dabei soll auch ein ärztlicher Bereitschaftsdienst verfügbar sein, etwa um die Medikation sicherzustellen.
Taugliches Modell gesucht
Das Modellvorhaben an zwölf Standorten läuft über vier Jahre, darunter eine zweijährige Evaluationsphase, und wird mit neun Millionen Euro aus dem GBA-Innovationsfonds gefördert.
Das Ziel ist, ein für die Regelversorgung taugliches Modell zu beschreiben, das als Regelleistung in einem möglichen Paragrafen 37d SGBV kodifiziert wird, so Nils Greve vom Dachverband Gemeindepsychiatrie beim diesjährigen Digitalkongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) Ende November in Berlin.
Entscheidende Vorarbeiten dafür sind vom Institut für Sozialpsychiatrie der Universität Greifswald unter der Leitung von Professor Ingmar Steinhart geleistet worden. Er hat ein funktionales Basismodell für eine Gemeindepsychiatrie entwickelt, das alle notwendigen Unterstützungsfunktionen bei schweren psychischen Erkrankungen leistet: Es ist konsequent ambulant ausgerichtet, berücksichtigt den Sozialraum der Betroffenen und ist „recovery-orientiert“, wie Steinhart sagt. Die ambulanten multiprofessionellen Teams sollen rund um die Uhr auch an den Wochenenden verfügbar sein.
Beschrieben werden in dem Basismodell die notwendigen Funktionen – beispielsweise komplexer oder intensiver Behandlungsbedarf, Maßnahmen zur Gesundheitsförderung bis hin zur Beratung und Steuerung (Lotsenfunktion) der Patienten – und den sich aus den Funktionen ergebenden Ressourcen, beispielsweise dem Personalbedarf. Daraus lässt sich ein in der jeweiligen Region notwendiges Budget ermitteln.
Teilhabe soll gestärkt werden
Aufgrund dieser Sollvorgaben ist es möglich, in einem Vergleich mit der Ist-Situation Defizite zu ermitteln und Anhaltspunkte für eine Weiterentwicklung der Versorgung zu gewinnen.
In Umfragen unter niedergelassenen Ärzten werden Bewertungen für die Bedeutung verschiedener Funktionen der Basisversorgung erhoben. Entscheidend, so Nils Greve, sei die Bildung multiprofessioneller Teams, die Leistungen aus allen relevanten Rechtskreisen der Sozialgesetzbücher zur Betreuung und Behandlung der Patienten koordinieren und integrieren.
Das Ziel sei, Eigenverantwortung und Teilhabe am sozialen Leben der Betroffenen zu stärken, ihre Lebensqualität zu verbessern und die Angehörigen zu unterstützen. In einer randomisierten klinischen Studie mit 500 Teilnehmern in der Interventions- und einer gleich großen Kontrollgruppe sollen zweimal im Jahr durch Befragung die Effekte des Modells erhoben werden.
Das Modellprojekt läuft bis Mitte 2023. Dann wäre der Gesetzgeber am Zug, Schlussfolgerungen zu ziehen.