Pflegenotstand

Rettungsaktion für die Menschenwürde im Heim

Regelmäßig berichten Medien über Missstände in der Pflege. Sind diese flächendeckend und so gravierend, dass der Staat zum Eingreifen gezwungen ist? Genau das macht der Sozialverband VdK derzeit vor dem Bundesverfassungsgericht geltend.

Martin WortmannVon Martin Wortmann Veröffentlicht:
Ist der Staat wegen Missständen in Pflegeheimen zum Eingreifen gezwungen?

Ist der Staat wegen Missständen in Pflegeheimen zum Eingreifen gezwungen?

© Klaus Eppele / fotolia.co

KARLSRUHE. Bundesweit sorgte es für Aufsehen, als vor etwa einem Jahr, im April 2014, Deutschlands größter Sozialverband VdK seine Initiative für eine Verfassungsbeschwerde gegen den Pflegenotstand bekannt gab. Seit November liegt nun die Beschwerde in Karlsruhe.

Der "Ärzte Zeitung" liegt die 112-seitige Begründung vor. Sie diagnostiziert ein "kollektives Wegschauen" vor durchaus bekannten Tatsachen. Rechtlich macht die Beschwerde Verstöße gegen die Persönlichkeitsrechte und die körperliche Unversehrtheit geltend, vor allem aber gegen die Menschenwürde.

Denn das erste und oberste aller Grundrechte ist im Grundgesetz nicht nur als Abwehrrecht gegen, sondern zugleich auch als Auftrag an den Staat gestaltet: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

Kurz gefasst lautet daher die Argumentation der Beschwerdeführer und des VdK: Der Staat sei verpflichtet, Würde und Unversehrtheit der Bewohner von Pflegeheimen zu schützen. Diesem verfassungsrechtlichen Auftrag komme er bislang nicht ausreichend nach.

Mit einem Trick umging der VdK dabei das Problem, dass Gerichte in der Regel nur Einzelfälle prüfen. Klagen einzelner Heimbewohner gegen einzelne Heime würden sich aber über Jahre durch die Instanzen ziehen - und an der Gesamtsituation letztlich wohl wenig ändern.

Sieben "potenziell Betroffene" klagen

Einen Ausweg hatte die Regensburger Juristin Susanne Moritz in ihrer Doktorarbeit aufgezeigt. "Gravierende" Missstände in stationären Pflegeeinrichtungen seien empirisch belegt, schreibt sie.

"Die Lebensbedingungen vieler Menschen in Pflegeheimen sind lebensunwert; der Pflegezustand sowie die Pflegequalität sind zu einem erheblichen Teil mangelhaft. Darüber hinaus lässt sich eine regelmäßige Gewaltanwendung gegenüber den Pflegebedürftigen nachweisen."

Die Ursachen sieht Moritz "in den gesetzlichen Rahmenbedingungen der Pflege", insbesondere in der "Finanznot der Pflegekassen", "systematischen Fehlanreizen" sowie in einer "unzulänglichen Kontrolle".

Dagegen anzugehen sei "zuvörderst Sache des Gesetzgebers". Ohne sein Eingreifen sei eine Verbesserung nicht zu erwarten. Daher sei eine Beschwerde in Karlsruhe auch nicht nur aktuell betroffenen Heimbewohnern möglich. Vielmehr bestehe eine Beschwerdebefugnis "für alle potenziell künftig Betroffenen".

Unterstützt durch den VdK haben nun sieben solcher "potenziell künftig Betroffener" das Bundesverfassungsgericht angerufen. Sie sind überwiegend bereits pflegebedürftig und erwarten, dass sie in absehbarer Zeit auf Heimpflege angewiesen sein werden.

"Sie fürchten, dass dann auch sie von den verbreiteten Missständen in der stationären Pflege betroffen sein werden, ohne aber im Heim noch in der Lage zu sein, sich effektiv dagegen zu wehren.

Deswegen suchen sie jetzt und auf diesem Wege Rechtsschutz", heißt es in der Verfassungsbeschwerde. Das für Verfassungsbeschwerden übliche Kriterium einer unmittelbar eigenen Betroffenheit sei hier "nicht anwendbar".

Ob diese Argumentation trägt, ist entscheidend für das Verfahren. Denn nur dann ist die Verfassungsbeschwerde überhaupt zulässig.

Und nur dann kann und würde daher das Bundesverfassungsgericht in die inhaltliche Prüfung der von Moritz‘ Doktorvater, dem Regensburger Staatsrechtler Professor Alexander Graser, sowie dem Rosenheimer Rechtsanwalt Christoph Lindner ausformulierten Beschwerde einsteigen.

Wann eine Entscheidung fällt, ist noch offen

Die Beschwerdeführer stützen sich in weiten Teilen auf den Pflegequalitätsbericht 2012 des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen - eine der wenigen Quellen, die systematische Zahlen zur Heimpflege liefert.

Das Thema Gewalt klammert die Beschwerde weitgehend aus. Auch damit wollen die Autoren die Fokussierung auf einzelne Personen und Einrichtungen vermeiden.

Stattdessen rügen die Beschwerdeführer beispielsweise eine unzureichende Mobilisierung. Alte Menschen würden "ins Bett hineingepflegt", dort fixiert oder mit Tabletten ruhig gestellt. Nach einer Untersuchung des Instituts für Rechtsmedizin München seien von 26 obduzierten gurtfixierten Personen 22 allein wegen ihrer Fixierung gestorben.

Hunderttausende Heimbewohner würden unnötig mit Psychopharmaka behandelt, vorrangig um Personal zu sparen und Pflegebedürftige in eine höhere Pflegestufe zu bekommen. Auch Druckgeschwüre und Muskelkontrakturen würden so begünstigt.

"Katheter und Windeln statt Toilettengang, Essen im Bett statt begleitetes Gehen in den Speisesaal, Abstellen im Rollstuhl statt Unterstützung bei Gehversuchen - solche und viele weitere zeitsparende Vorgehensweisen reduzieren die Mobilität der Pflegebedürftigen und begünstigen so die Entstehung von Dekubiti", heißt es in der Verfassungsbeschwerde.

Auch weitere bereits breit diskutierte Probleme greift die Beschwerde auf, etwa eine unzureichende Flüssigkeitsversorgung und eine unzureichende Unterstützung beim Essen. 50 000 bis 100.000 PEG-Sonden würden jährlich in Heimen gelegt.

Die Zahlen seien "so hoch, dass man darauf schließen muss, dass viele Fälle pflegeökonomisch zu erklären sind". Gleiches gelte für den Ersatz des Toilettengangs durch Urinkatheter und "Dreieinhalb-Liter-Windeln".

Dass auch die Gerichte bislang kaum Abhilfe schaffen konnten, liege daran, "dass bei den Ursachen des Pflegenotstands nicht individuelles Fehlverhalten im Vordergrund steht, sondern ein systemisches Versagen".

Daher, so die nun wieder juristische Argumentation, sei ein Eingreifen des Gesetzgebers notwendig. Die Beschwerdeführer wehren sich gegen die verbreitete Sicht, die eine gute und "grundrechtskonforme Pflege" von eigener Vorsorge und damit letztlich vom "individuellen Wohlstand" abhängig macht.

Wie beim Existenzminimum sei auch hier "ein Mindestniveau jedem von Verfassung wegen garantiert". Wann die Karlsruher Verfassungsrichter darüber beraten werden, ist noch offen.

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