EU Medical Device Regulation
Engpässe bei Medizinprodukten: Kassen gegen Abstriche bei Qualitätsvorgaben
Ist die EU-Regulation schuld an Lieferproblemen bei Medizinprodukten? Der GKV-Spitzenverband sieht das nicht so und warnt davor, Qualitätsstandards „über Bord zu werfen“.
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Was, wenn die Katheter knapp werden?
© Jens Wolf / picture alliance
Berlin/Brüssel. In der Debatte um Lieferengpässe und Sortimentsbereinigungen bei Medizinprodukten warnen die Krankenkassen vor einem Aufweichen der Vorgaben. „Die EU-Medizinprodukteverordnung ist ein wichtiger Fortschritt, denn sie dient in erster Linie dem Schutz der Patientinnen und Patienten“, sagte Dr. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, am Montag in Berlin.
„Wenn aufgrund von Kapazitätsengpässen bei Benannten Stellen die Verfügbarkeit einzelner Produkte gefährdet sein sollte, dann muss dieses Problem gezielt gelöst werden, anstatt die Qualitätsstandards für alle Produkte generell über Bord zu werfen.“
Hintergrund sind Engpässe bei Medizinprodukten, für die Beobachter und insbesondere die Hersteller die verschärften regulatorischen Anforderungen durch die novellierte EU-Medizinprodukteverordnung (MDR/Medical Device Regulation) verantwortlich machen.
Der GKV-Spitzenverband widerspricht Forderungen nach einer Verlängerung der Übergangsfristen für Bestandsprodukte, die noch nach der alten EU-Medizinprodukterichtlinie (MDD/Medical Device Directive) zugelassen wurden. Bis dato läuft diese Frist in knapp zwei Jahren am 26. Mai 2024 ab, deren Abverkaufsfrist ein Jahr später. Industrie, Politik – insbesondere aus Deutschlands größtem Medizintechnikstandort Baden-Württemberg –, aber auch der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) hatten diese Verlängerung von der EU-Kommission gefordert.
Kassen pochen auf sachliche Situationsanalyse
In einem gemeinsamen Brief appellierte die DKG mit medizinischen Fachverbänden anlässlich der Sitzung des Europäischen Rates für Beschäftigung, Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz (EPSCO) Mitte Juni an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die MDR-Baustelle prioritär anzugehen. „Die EU-Kommission und die Gesundheitsminister müssen auf diese Missstände sofort reagieren, sonst gefährden wir akut die Gesundheitsversorgung für bestimmte Patientinnen und Patienten“, sagte seinerzeit DKG-Chef Dr. Gerald Gaß.
Und weiter: „Wir benötigen jetzt Ausnahmeregelungen für bewährte Medizinprodukte und längere Übergangsfristen. Zudem bietet sich ein Off-Label-Use wie bei Arzneimitteln als Anreizsystem an, damit die Unternehmen wieder die wirtschaftlich risikobehafteten, aber dringend benötigten Nischenprodukte für sehr kleine Patientengruppen herstellen.“
Dies gelte insbesondere für die Kinderversorgung. „Dass die EU-Verantwortlichen auf die Hersteller verweisen, die sich möglicherweise nicht schnell genug auf die neue Verordnung eingestellt haben, mag teilweise richtig sein. Es hilft aber den Patientinnen und Patienten nicht, die akut von Lieferschwierigkeiten bedroht sind“, so Gaß.
Kassen fordern konkrete Lösungen
Aus Sicht des GKV-Spitzenverbandes verzerren die aktuellen Diskussionen über den Umgang mit Versorgungsengpässen die Sachlage und führen die Öffentlichkeit gezielt in die Irre – unter anderem mit dem Beispiel der nicht mehr verfügbaren Ballonkatheter für die Versorgung herzkranker Neugeborener. Diese Medizinprodukte seien aufgrund von Sicherheitsmängeln vom Markt genommen worden und nicht wegen zu hoher MDR-Anforderungen. Derzeit sei unklar, welches Ausmaß mögliche Versorgungsprobleme überhaupt annehmen könnten.
Statt in bloßen Aktionismus zu verfallen und damit die Schutzfunktion der EU-Verordnung für die Patientensicherheit noch weiter zu verschieben oder gar vollständig auszuhebeln, so die Stoßrichtung der Kassen, sei eine sachliche Situationsanalyse erforderlich.
„Sollten sich tatsächlich konkrete Probleme bei der Verfügbarkeit von Medizinprodukten abzeichnen, dann müssen dafür gezielt Lösungen gefunden werden. Der Anspruch der Versicherten auf eine medizinische Versorgung mit hohen Sicherheitsstandards steht für den GKV-Spitzenverband an erster Stelle“, so Pfeiffer.
Stellschraube Benannte Stellen
Eine – auch nach Lesart der Kassen – gezielte Lösung könnte von der zuständigen Koordinierungsgruppe Medizinprodukte bei der EU-Kommission (MDCG/Medical Device Coordination Group) kommen, die den Benannten Stellen (BS) als Ansprechpartner für die Marktzulassung der Medizinprodukte Auslegungshinweise im Zuge der Zertifizierung gibt.
In einem am 8. Juli vorgelegten Positionspapierentwurf, der der Ärzte Zeitung vorliegt, sollen Marktrücknahmen versorgungsrelevanter Medizinprodukte wegen fehlender Bewertungskapazitäten bei den BS adressiert werden. Das Papier soll am 25. August offiziell verabschiedet werden.
Es sieht beispielsweise vor, dass Medizinproduktehersteller, die nachweisen können, dass sie die Bewertung ihrer Produkte bei einer BS beantragt haben, für einen befristeten Zeitraum bis zum Vorliegen der abschließenden Bewertung dieser Zertifizierungsstelle eine Ausnahmegenehmigung für die Weitervermarktung dieser Produkte erhalten. Kanada habe, so der GKV-Spitzenverband, für ein ähnlich gelagertes Problem diesen Lösungsweg mit Erfolg beschritten.
Die MDCG wirft aber auch den Vorschlag in den Ring, die BS dadurch zu entlasten, dass ihre obligate Rezertifizierung durch die EU-Kommission zum Zwecke der MDR-Zertifizierung von Medizinprodukten von den vorgesehenen drei einmalig auf einen Zeitraum von zunächst fünf Jahren verlängert wird.