EPSCO-Treffen in Brüssel

Medizinprodukte-Engpässe: DIHK fordert Tempo bei MDR-Reparaturarbeiten

Die Gesundheitsminister der EU-Mitgliedstaaten haben am Freitag in Brüssel Änderungen an der Medizinprodukteverordnung auf der Agenda. Die Industrie will endlich Taten gegen die Marktausdünnung sehen.

Matthias WallenfelsVon Matthias Wallenfels Veröffentlicht:
EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides soll am Freitag nach dem Treffen der Gesundheitsminister vor der Presse verkünden, an welchen Stellschrauben an der Medizinprodukteverordnung gedreht werden soll, um unter anderem Engpässe abzuwenden.

EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides soll am Freitag nach dem Treffen der Gesundheitsminister vor der Presse verkünden, an welchen Stellschrauben an der Medizinprodukteverordnung gedreht werden soll, um unter anderem Engpässe abzuwenden.

© JULIEN WARNAND / EPA / picture alliance (Archivbild)

Berlin/Brüssel. Der Druck auf die EU-Kommission und die nationalen Gesundheitsminister wächst, endlich gegensteuernde Maßnahmen gegen die sich im Zuge der Novellierung der EU-Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation/MDR) auftuenden Versorgungsengpässe – vor allem auch bei lebenswichtigen Nischenprodukten wie in der Kinderkardiologie – zu unternehmen. Die EU-Kommission hatte bereits bekundet, mit konkreten Schritten warten zu wollen bis zur EPSCO-Sitzung der nationalen Gesundheitsminister in Brüssel. Diese ist nun am Donnerstag gestartet. Am Freitag steht die MDR auf der Agenda.

Am Donnerstag hat nun der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) in einem flammenden Appell an die EPSCO-Teilnehmer gewandt. Er fordert Nachbesserung durch Drehen an wichtigen Stellschrauben – man solle sich „auf dringend erforderliche Anpassungen der EU-Medizinprodukteverordnung verständigen. Andernfalls drohen Defizite bei der Versorgung mit wichtigen Medizinprodukten sowie eine Schwächung des Wirtschafts- und Gesundheitsstandorts“, heißt es in einer DIHK-Mitteilung.

Die MDR ist seit Mai 2021 für Hersteller von Medizinprodukten verbindlich und hat zu hohen Hürden bei der Marktzulassung medizinischer Produkte geführt. Auch wenn der neue Rechtsrahmen richtige und wichtige Ziele verfolgt: In der Praxis stellt er die Unternehmen vor große Herausforderungen. So bietet die MDR etwa keinen Bestandsschutz für bereits auf dem Markt befindliche Medizinprodukte. Das bedeutet, dass auch Produkte, die bereits seit Jahren auf dem Markt sind und sich in der Versorgung bewährt haben, nach den neuen Anforderungen zertifiziert werden müssen – und zwar bis spätestens Mai 2024. Dieser Zeitplan ist aber nicht einzuhalten – allein schon aus Mangel an für die Genehmigung zuständigen Stellen – Benannte Stellen.

Hoffen auf pragmatische Lösungen

Der DIHK hofft nun auf pragmatische Lösungen. „Die Kommission sollte mit ihrem Treffen jetzt ein klares Zeichen setzen, konkrete Lösungen aufzeigen und die Probleme nicht nur aufschieben“, betont Achim Dercks, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des DIHK. Dercks zählt auf: „Dazu gehört unter anderem eine Überarbeitung der bestehenden Übergangsbestimmungen, um allen Akteuren mehr Zeit zur Auflösung der bestehenden Engpässe zu verschaffen. Denkbar wären hier nach Risikoklassen gestaffelte Fristen. Um die unnötige Vernichtung bereits produzierter sicherer Medizinprodukte zu verhindern, ist zudem die Abschaffung der Frist zum Abverkauf notwendig. Damit sollen auch über Mai 2025 hinaus noch unter die Übergangsregelung fallende Medizinprodukte Endanwendern wie Krankenhäusern zur Verfügung gestellt werden können. Darüber hinaus braucht es aber auch Sonderregelungen für Nischenprodukte, wie es das für Arzneimittel, sogenannte Orphan Drugs, schon lange auf EU-Ebene gibt. Und schließlich sind pragmatischere Bewertungsansätze für bewährte Bestandsprodukte notwendig.“

Zudem würden Lösungen gerade für Start-ups sowie kleine und mittlere Unternehmen gebraucht, die trotz großer Bemühungen keine Benannte Stelle fänden. Dercks weiter: „Die Politik muss neben der wichtigen Sicherung des Patientenwohls den Erhalt der Wettbewerbs- und Innovationskraft der mittelständischen Industrie stärker in den Blick nehmen. Gerade für Start-ups sowie kleinere und mittlere Unternehmen, beispielsweise im Bereich der digitalen Gesundheitswirtschaft, erschweren die Regelungen den Marktzugang wesentlich, sodass erhebliche Innovationshemmnisse bestehen.“

Bereits zu Beginn dieses Jahres ergab eine Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) unter 378 Unternehmen, dass die MDR für die Hersteller von Medizinprodukten an vielen Stellen nicht praxistauglich ist. Die Ergebnisse machen deutlich, dass nicht nur die Vielfalt von Medizinprodukten in der EU kleiner, sondern auch die Wettbewerbskraft und Innovationsfähigkeit der europäischen Medizintechnikindustrie geschwächt wird.

„Ein gravierendes Problem ist der Engpass bei den Benannten Stellen, die für die Bewertung von Medizinprodukten verantwortlich sind“, sagt Dercks. „Ihre Kapazitäten sind in der Zwischenzeit zwar etwa auf dem Niveau von früher. Dies reicht jedoch bei Weitem nicht aus. Es sind nicht nur erheblich mehr Medizinprodukte auf eine Bewertung durch eine Benannte Stelle angewiesen. Die Zertifizierungen mit Verfahrensdauern von 12 bis 24 Monaten sind zudem deutlich umfangreicher als zuvor.“ Aufgrund von Kapazitätsproblemen bekämen viele Unternehmen auf absehbare Zeit auch keine Terminzusagen für Produktprüfungen oder fänden überhaupt keine Benannte Stelle für ihre Produkte – das gelte für lang bewährte Produkte ebenso für innovative Neuzulassungen. Außerdem: Unternehmen sind mit deutlich mehr Bürokratie und erheblichen Kostensteigerungen konfrontiert, die insbesondere die Entwicklung und Vermarktung von Nischenprodukten oft unrentabel machen.

Ärzte für klinische Prüfungen fehlen

Zudem machen die zusätzlichen Belastungen gerade den vielen kleinen und mittleren Betrieben mit begrenzten personellen und finanziellen Ressourcen zu schaffen. Hinzu kommen praktische Probleme: Für die Überführung von Bestandsprodukten in die MDR fehlen zudem vielfach Ärzte für erforderliche klinische Prüfungen, andernorts verhindern Negativ-Bescheide der Ethik-Kommission diese Prüfungen. „Wir sehen jetzt schon eine Art Dominoeffekt: Die MDR hat den ersten Stein angestoßen, die Auswirkungen schwächen nach und nach die gesamte deutsche Gesundheitswirtschaft. Wenn hier nicht schnell eingeschritten wird, werden die Folgen schwerwiegend sein.“

Die Umfrage unter den betroffenen Unternehmen hat zudem konkrete Beispiele für die Probleme zutage gefördert: Dies seien etwa die Gefahr der Produktionseinstellungen unter anderem bei Baby-Stents oder Radiofrequenzperforationskathetern für verklebte Herzklappen bei Neugeborenen. Sie gelten als Nischenprodukte, da ihre Zweckbestimmung mit einer geringen Zahl von Anwendungen einhergeht.  Weiter haben die Betriebe diverse chirurgische Instrumente, Elektroden, Katheter, Endoskope, Implantate sowie Röntgentische, Sitz- und Aufstehbetten oder Elektrostimulationsgeräte genannt. Sie gaben auch an, dass Zubehör und Ersatzteile für Geräte der Hochfrequenz-Chirurgie vom Markt genommen werden. Diese Geräte können, wenn die entsprechenden Zubehörteile fehlen, nicht mehr repariert oder erweitert werden.

Für viele Produkte, die vom Markt genommen werden, gibt es laut DIHK-Umfrage und nach Angaben der Hersteller keine Alternativen. Insbesondere Produkte in der Pädiatrie beziehungsweise Kinderheilkunde (30 Prozent der Unternehmen sehen hier keine Alternativprodukte), medizinische Hilfsmittel (28 Prozent), Produkte der Urologie (21 Prozent), der Orthopädie, Traumatologie, Rehabilitation und Rheumatologie (20 Prozent) und der Geburtshilfe/Gynäkologie (19 Prozent) wurden genannt. Betroffen sind aber auch die Kinderchirurgie (15 Prozent) und die Kardiologie (zehn Prozent).

Fast jeder zweiter Betrieb hat zudem Innovationsprojekte gestoppt – im Bereich der Pädiatrie sind es sogar mehr als zwei Drittel der Unternehmen. Ein Fünftel der Unternehmen weicht bei der Erstzulassung ihrer medizintechnischen Innovationen auf andere Märkte wie etwa die USA oder Asien aus. Dies hat auch negative Auswirkungen auf die klinische Forschung und Entwicklung in Europa, da in der Folge klinische Datenerhebungen und Studien ebenfalls in die Länder der Erstzulassung verlagert werden.

Am Donnerstag nachmittag meldete sich auch der Branchenverband SPECTARIS noch zum EPSCO-Treffen zu Wort. „Um die inzwischen existenz- und versorgungsgefährdenden Hürden der MDR zu überwinden, braucht es Sofortmaßnahmen auf EU-Ebene“, betont Dr. Martin Leonhard, Vorsitzender Medizintechnik bei SPECTARIS. Der Industrieverband begrüßt, dass die MDR-Thematik endlich in den Fokus des europäischen Rates gerückt ist und sieht Gesundheitsminister Lauterbach in Zugzwang, sofort umfassende Verbesserungen der Verordnung zu erwirken. „Die Zeit drängt besonders für Medizintechnikhersteller, bei denen Zertifikate in Kürze ablaufen, im Jahr 2022 sind bereits über 2.000 Zertifikate und damit viele lebenswichtige Medizinprodukte für die Patientenversorgung betroffen.“

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