Zwischen 2003 und 2017

396 Studien haben die Medizin revolutioniert

Kehrtwenden in der Medizin sind gar nicht so selten. Eine Untersuchung offenbart: Fast 400 Mal wurde allein in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten das medizinische Wissen erschüttert.

Dr. Robert BublakVon Dr. Robert Bublak Veröffentlicht:
Gepaukt, geübt, Geschichte: Eine Studie hat nach Kehrtwenden gesucht, die medizinisches Wissen umgeworfen haben.

Gepaukt, geübt, Geschichte: Eine Studie hat nach Kehrtwenden gesucht, die medizinisches Wissen umgeworfen haben.

© YanC / Getty Imaegs / iStock

PORTLAND. Seit geraumer Zeit sind Bemühungen im Gange, die medizinische Praxis auf eine solide empirische Grundlage zu stellen. Das gilt für jene Ärzte, die sich der evidenzbasierten Medizin verschrieben haben, ebenso wie für die Mediziner, die sich in der Initiative „Klug entscheiden“ zusammengeschlossen haben.

Denn nicht alles, was medizinisch etabliert ist, gilt als wissenschaftlich fundiert. Und so kommt es immer wieder zu Situationen, in denen sich ein verbreitet praktiziertes Verfahren bei genauerem Hinsehen als praktisch nutzlos erweist. Diana Herrera-Perez von der Oregon Health & Science University in Portland hat nach solchen Kehrtwenden gefahndet.

Zusammen mit Kollegen hat sie sich 3017 Artikel mit Resultaten randomisierter und kontrollierter Studien angesehen, die in den Jahren 2003 bis 2017 in den drei führenden medizinischen Fachjournalen New England Journal of Medicine, Lancet und JAMA erschienen sind (eLife 2019; 8: e45183).

Viele Wenden gab’s in der Kardiologie

In ihrer Übersicht identifizierten die Forscher 396 Studien, die sie als „medizinische Wenden“ einstuften – also rund 13 Prozent der untersuchten Studien. Um Wenden handelt es sich dabei insofern, als sich eingeübte Verfahrensweisen in den Studien als unnütz oder von geringem Wert herausgestellt haben.

In vielen, aber nicht in allen Fällen hat das dazu geführt, das Verfahren aufzugeben. Die meisten Wenden gab es auf dem Gebiet der kardiovaskulären Erkrankungen (20 Prozent). Medikationen waren die häufigsten betroffenen Interventionen (33 Prozent).

Zu den Verfahren, die in einer „Wende-Studie“ behandelt worden sind, gehört das routinemäßige Anlegen von Oberschenkel-Kompressionsstrümpfen bei Schlaganfallpatienten, um tiefen Venenthrombosen vorzubeugen.

Der Nutzen hat sich nicht bestätigt. Auch die Hormonersatztherapie nach der Menopause hat aufgrund von Studienergebnissen eine Revision erfahren. Gleiches gilt für die Behandlung von Meniskuseinrissen und Arthrose, wo arthroskopische Verfahren aufgrund von negativen Resultaten zurückgedrängt worden sind.

Wende noch nicht so recht erfolgt

Auf der Liste von Herrera-Perez stehen aber auch einige Interventionen, wo die Wende noch nicht so recht erfolgt ist – und vielleicht auch nie erfolgen wird, weil die Datenlage gar nicht so negativ ist.

Ein Beispiel ist Intervention Nr. 194 auf der Liste. Dabei geht es um den Einsatz von Omega-3-Fettsäuren in der Primär- und Sekundärprävention von kardiovaskulären Erkrankungen.

Ob es sich hier tatsächlich um eine Wende handelt, wird sich erst noch erweisen müssen. Zwar fiel das Ergebnis der großen, 2013 publizierten Wende-Studie negativ aus (N Engl J Med 2013; 368: 1800).

Doch seit der im Januar 2019 veröffentlichten REDUCE-IT-Studie bestehen wieder Zweifel am Zweifel (N Engl J Med 2019; 380: 11): In REDUCE-IT war es mit reiner und hoch dosierter Eicosapentaensäure gelungen, das kardiovaskuläre Risiko von Patienten mit erhöhten Triglyzeridspiegeln signifikant zu senken. Die Studie konnten Herrera-Perez und Kollegen noch nicht berücksichtigen.

Substanz oder Applikationsart ändern?

Interessant ist auch ein Blick auf Nr. 264 der Liste. Hiernach ist Notfallpatienten mit akuten Schmerzen in Armen oder Beinen, zum Beispiel nach Knochenbrüchen, mit einer Schmerzmittelkombination aus Ibuprofen und Paracetamol ebenso gut geholfen wie mit der Gabe von Opioidanalgetika: Zwei Stunden (!) nach der Gabe sei kein Unterschied in der Schmerzreduktion festzustellen gewesen, so das Fazit der einschlägigen Studie (JAMA 2017; 318: 1661).

Dies sei als Wende weg von der Opioidanalgesie in dieser Indikation aufzufassen, meinen Herrera-Perez und ihr Team dazu.

Mit einem gebrochenen Bein können sich zwei Stunden allerdings ziemlich in die Länge ziehen. Eine deutsche Studie zur Analgesie von Traumapatienten, die sich ebenfalls mit dem Vergleich von Opioid- mit Nichtopioidanalgesie beschäftigt hat, kam zwar zum gleichen Ergebnis: kein signifikanter Unterschied. Allerdings wurden die Mittel hier intravenös appliziert.

Sie wirkten binnen 15 Minuten, Morphin tendenziell rascher als die Vergleichssubstanz Paracetamol. Und die Patienten, die Morphin bekommen hatten, waren mit ihrer Therapie auch tendenziell zufriedener als die Patienten nach Paracetamol.

Die Wende in der Analgesie von Extremitätenschmerzen sollte demnach vielleicht weniger im Substanzwechsel als in einer Änderung der Applikation bestehen. Denn ob Opioid oder Nichtopioid: Intravenös wirkt schneller als oral.

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