Auf der Suche nach Leitlinien für Multimorbidität

Spezialisten haben der Medizin eine vierstellige Zahl von Leitlinien beschert. Doch in die Partialoptimierung passt der reale Patient nicht hinein, vor allem multimorbide Menschen nicht.

Raimund SchmidVon Raimund Schmid Veröffentlicht:

FRANKFURT/MAIN. Die Fakten sind bekannt: Insgesamt liegt der Anteil mehrfach erkrankter Patienten in der Hausarztpraxis bei 30 Prozent. Bei über 60-Jährigen sind es bereits 60 Prozent, bei über 80-Jährigen gut 80 Prozent. Dabei müssen diese Patienten häufig fünf bis neun - mitunter sogar mehr als zehn - Arzneien einnehmen.

Das Dilemma des Hausarztes: Er muss oft Therapien kombinieren. Doch dafür gibt es bislang noch keine wissenschaftlichen Leitlinien. © Yuri Arcurs / fotolia.com

Das Dilemma des Hausarztes: Er muss oft Therapien kombinieren. Doch dafür gibt es bislang noch keine wissenschaftlichen Leitlinien. © Yuri Arcurs / fotolia.com

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Beste Arzneitherapie - und dennoch schwere UAW

Mit dem Alter und der zunehmenden Zahl an Medikamenten steigt aber auch die Gefahr von unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW). Etwa 6,5 Prozent aller Krankenhauseinweisungen erfolgen aufgrund von UAW, die in bis zu 80 Prozent als schwer wiegend bewertet werden, berichtet der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen.

An Wissen mangelt es also nicht. Allerdings hilft dies dem einzelnen Hausarzt recht wenig, wenn er - sofern vorhanden - seine Therapien an Leitlinien orientiert, um die in ihn gesetzten Qualitätsanforderungen zu erfüllen. Leitlinien decken in der Regel lediglich ein Krankheitsbild ab und können somit den Behandlungserfordernissen multimorbider Patienten kaum gerecht werden. Kein Wunder, dass deshalb gerade bei älteren oder sehr alten Patienten unerwünschte Ereignisse auftreten, die die Therapie und Compliance erheblich beeinträchtigen. Im Institut für Allgemeinmedizin an der Universität Frankfurt geht man davon aus, dass 30 bis 70 Prozent der unerwünschten Ereignisse vermeidbar wären.

In praxisorientierten Studien möchte der Frankfurter Institutsleiter Professor Ferdinand M. Gerlach zusammen mit seinen Kollegen dieses Dilemma lösen. Bei "PRIMUM" etwa, einer prospektiven Interventionsstudie zur Priorisierung und Optimierung von Multimedikation bei multimorbiden älteren Patienten in der Hausarztpraxis. Die entscheidende Frage ist: Wie kann die medikamentöse Verordnung bei multimorbiden älteren Patienten mit Multimedikation durch Hausärzte und Medizinische Fachangestellte (MFA) verbessert werden? Erste Zwischenergebnisse des PRIMUM-Projektes zeigen, dass die MFA zusammen mit dem Hausarzt anhand einer Checkliste (MediMol = Medikations-Monitoring-Liste) durchaus Schwachstellen bei der Arzneiverordnung herausfinden kann. Der Hausarzt prüft die Ergebnisse der Checkliste und den bestehenden Therapieplan mit Hilfe eines Computerprogramms, das auf eine große Datenbank mit Arzneimittelinformationen zugreift. Hausarzt und Patient stimmen dann den neuen Therapieplan ab. Bisher hat sich gezeigt, dass Medikamente, die nicht miteinander harmonieren, leichter aufgespürt und schneller abgesetzt werden können.

Interessante Erkenntnisse liefert auch die Studie MultiCare. Dort werden Erkrankungen betrachtet, die sozusagen im Kombi-Pack im Alter zusammen auftreten. Das Problem dabei ist häufig, dass bei multimorbiden Patienten eine Behandlung den Verlauf der einen Krankheit positiv beeinflusst, sich aber gleichzeitig negativ auf eine andere Krankheit auswirkt. Im Rahmen des Projektes, das in acht deutschen Studienzentren (Hamburg, Bonn, Düsseldorf, Frankfurt, Jena, Leipzig, Mannheim und München) stattfindet, findet eine umfassende Analyse von Multimorbidität in der hausärztlichen Versorgung mittels einer prospektiven Beobachtungsstudie statt.

Priorität für häufigste Krankheits-Kombinationen

Erste Ergebnisse liegen auch hier bereits vor. Auffällig dabei: Bluthochdruck und Fettstoffwechselstörungen in Kombination mit einer dritten Erkrankung (häufig Gelenkarthrose und Diabetes mellitus) sind die häufigste Krankheitskombination, mit der Hausärzte in der Praxis bei älteren Patienten konfrontiert werden. Leitlinien zur Behandlung von Patienten mit dieser häufigen Krankheitskombination gibt es für den Hausarzt aber keine. Danach folgt - mit deutlichem Abstand - Gelenkarthrose in Kombination mit zwei weiteren Erkrankungen (häufig Adipositas und KHK). Kombinierte Leitlinien hierfür? Ebenfalls Fehlanzeige.

Für die Hausärzte jedenfalls wären praxistaugliche Behandlungskonzepte für multimorbide Patienten Gold wert. Sie wären für die praktischen Probleme sogar wichtiger als immer anspruchsvollere Leitlinien, die aus der Spezialmedizin kommen. Sie geben den Ärzten unrealistische Standards vor, die nicht erreichbar sind.

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