Interview

Der HSK ist digitaler Kompass

Ulf Fink, Präsident des Hauptstadtkongresses, spricht von einer Revolution, wenn er an die Möglichkeiten der Digitalisierung denkt. Sinnvoll eingesetzt, biete sie nicht nur neue Chancen für Diagnostik und Therapie. Sie könne auch helfen, Pflegekräfte etwa bei der Dokumentation zu entlasten, sagt Fink.

Wolfgang van den BerghVon Wolfgang van den Bergh Veröffentlicht:
Plädoyer für weniger Kliniken und mehr Qualität: Ulf Fink (li.) im Gespräch mit Wolfgang van den Bergh.

Plädoyer für weniger Kliniken und mehr Qualität: Ulf Fink (li.) im Gespräch mit Wolfgang van den Bergh.

© Wohlleben

Ärzte Zeitung: Herr Fink, die Digitalisierung lässt uns nicht los, auch nicht den diesjährigen Hauptstadtkongress. Zum zweiten Mal in Folge nimmt der Kongress das Thema in seinem Titel auf. Warum?

Ulf Fink: Die nächste Revolution in der Medizin wird nicht ein neues Medikament oder eine neue Behandlungsmethode sein, sondern die intelligente Nutzung von Daten. Künstliche Intelligenz und Digitalisierung schaffen völlig neue Chancen, Krankheiten frühzeitig zu erkennen und gezielt zu behandeln. Zugleich wird das Gesundheitswesen dadurch finanzierbar gehalten. Es wird gesagt, man könne 34 Milliarden Euro allein im deutschen Gesundheitswesen durch Digitalisierung sparen.

Ist das auch der aktuellen medizinischen Entwicklung geschuldet, die immer präziser wird und dabei den Fokus auf das Individuum legt?

Fink: Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms durch Craig Venter hat ein neues Zeitalter eröffnet. Wir haben erkannt, dass ein Tumor nicht gleich ein Tumor ist, sondern sich von Person zu Person unterscheidet. Das Zuschneiden der Behandlung auf das genetische Profil des Tumors kann die Heilungsmöglichkeiten erheblich verbessern. Ohne Big Data wäre das alles nicht möglich.

Fakt ist auch, dass die Digitalisierung die Arbeitsprozesse verändern wird, haben wir darauf schon die richtigen Antworten?

Fink: Dieses Thema wird uns auf den zukünftigen Hauptstadtkongressen immer wieder begleiten. Schon jetzt ist klar, dass wir im Gesundheitswesen einen erheblichen Fachkräftemangel haben. Das heißt: Wir dürfen das knappe Personal nicht mit Routinetätigkeiten und Dokumentationspflichten zuschütten, so dass es am Ende seiner eigentlichen Tätigkeit nicht mehr nachgehen kann. Digitalisierung kann hier – richtig verstanden – einen wichtigen Beitrag leisten.

Wenn wir einen Blick in das Programm des Hauptstadtkongresses werfen, dann wird sehr schnell deutlich, wie wichtig der digitale Wandel in den Kliniken ist. Sind die Häuser dafür gerüstet?

Fink: Nein. Das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) hat in seinem aktuellen Krankenhausreport festgestellt, dass der Digitalisierungsgrad der deutschen Hospitäler 40 Prozent unter dem EU-Durchschnitt liegt. Stufe 7, der höchste Digitalisierungsgrad wird in Deutschland von keiner der untersuchten Kliniken erreicht. Stufe 6 nur von einem der untersuchten Krankenhäuser, nämlich dem Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf. Fast 40 Prozent der deutschen Kliniken befinden sich sogar auf Stufe 0. Diese wird definiert, ich zitiere: ,Informationssysteme für große diagnostische und versorgende Abteilungen sind nicht installiert.´ Zum Vergleich: In den Niederlanden gibt es nicht eine einzige Klinik auf dieser Stufe.

An anderer Stelle sagen Sie, wenn Berlin zum Hotspot für Digitalisierung werden soll, müsse der Digitalisierungsgrad der Berliner Kliniken weiter ausgebaut werden. Gilt das nicht generell für alle Kliniken?

Fink: Ja, dennoch wird der Grad der Digitalisierung von Haus zu Haus unterschiedlich sein. Erreicht werden muss aber, dass eine Klinik wie die Charité oder das größte kommunale Krankenhaus in Deutschland, nämlich Vivantes in Berlin, Stufe 6 oder 7 erreichen.

Wie passt das mit den dringend notwendigen Strukturreformen in Kliniken zusammen?

Fink: Wir dürfen uns nichts vormachen. Deutschland hat zu viele Krankenhäuser. Unsere Krankenhauslandschaft ist gekennzeichnet durch Überkapazitäten, Unterfinanzierung und einen erheblichen Investitionsstau. Auf 100 000 Einwohner kommen in Deutschland 611 Krankenhausbetten, im EU Schnitt liegen wir bei 401. Es mangelt an Arbeitsteilung und Spezialisierung. Grund ist die duale Finanzierung.

Die Länder sind für die Krankenhausplanung zuständig, das heißt, sie sind für die Bettendichte in Deutschland verantwortlich, und sie sind zuständig für die Investitionsfinanzierung der Krankenhäuser. Da das Geld knapp war, sparten die Länder bei der Investitionsfinanzierung. Schließungen waren nicht durchsetzbar.

Wir brauchen eine umfassende Reform. Die Krankenhausgesellschaft schlägt vor, eine Strukturreform, einen gemeinsamen Pakt von Politik, Krankenhäusern und Krankenkassen auf den Weg zu bringen. Das ist ein hoffnungsvolles Zeichen, auch für mehr Qualität im Kliniksektor.

Muss sich der Fokus wieder mehr auf Qualität richten?

Fink: Absolut. Das derzeitige System ist nicht nur unwirtschaftlich, es stellt auch ein Risiko für die Gesundheit der Patienten dar. Angesichts der Vielzahl an Krankenhäusern und fehlender Spezialisierung mangelt es vielen Häusern an Erfahrung mit komplizierten Operationen. Ich empfehle Ihnen, einen Blick in den Qualitätsmonitor 2018 von WIdO und Gesundheitsstadt Berlin zu werfen.

Beispiel Lungenkrebsoperationen: Ein Fünftel der Patienten in Deutschland wurde in insgesamt 260 Klinken behandelt, die im Durchschnitt nur fünf dieser Operationen pro Jahr durchführen. Ich wiederhole: nur fünf Operationen. Dabei gilt bei diesen komplexen Eingriffen besonders: Übung macht den Meister.

Die deutsche Krebsgesellschaft fordert als Voraussetzung für die Zertifizierung für Lungenkrebszentren eine Mindestzahl von 75 Operationen pro Jahr. Das wird in Deutschland nur von weniger als 20 Prozent der Krankenhäuser erfüllt. Ähnliche Zahlen gibt es für Frühgeburten, Brustkrebs, Herzklappenimplantationen und so weiter.

Das ist die eine Seite der Medaille, wenn wir an die Schnittstellen der Versorgung denken, geht es auch um die Rolle des Vertragsarztes. Bietet der HSK hier Diskussionen an?

Fink: Die Digitalisierung ist ein Hilfsmittel für den Arzt, sie kann den Arzt aber keinesfalls ersetzen. Für die Gesundheitsversorgung kann sie aber ungeheuer hilfreich sein, zum Beispiel für die Versorgung auf dem flachen Land. Telemedizin ist hier das Stichwort. Da kann noch viel geschehen, wenn man sich einmal die Zahlen anschaut.

In Berlin rechnen nur wenige Praxen telemedizinische Leistungen ab. In Brandenburg sind die Zahlen noch geringer. Wir haben vor, solche Themen in Zukunft noch viel stärker auf den HSK anzusprechen. Damit wird die Bedeutung des Hauptstadtkongresses für den Vertragsarzt wachsen.

Heißt im Klartext: Wir müssen künftig Strukturen neu denken?

Fink: Schauen Sie, Bundesminister Spahn hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die bis zum Ende des nächsten Jahres Vorschläge für sektorübergreifende Versorgungsmodelle erarbeiten soll. Der Sachverständigenrat hat in seinem Gutachten 2018 konkrete Vorschläge für derartige Projekte gemacht. Ebenso beteiligen sich einige Kassen intensiv an der Diskussion. Der Druck, alte Strukturen zu überdenken wird zunehmen.

Herr Fink, in Vorfreude auf den Kongress: Was wird ihr ganz persönliches Highlight sein?

Fink: Eröffnung und Schluss des Kongresses stehen in diesem Jahr in einer ganz besonders engen Beziehung. Wir bringen künstliche Intelligenz zum Einsatz und werden am Ende der drei Kongresstage in einem Schlussspiel mit Prominenten die Frage stellen, ob Aussagen, die zur Gesundheitspolitik gemacht worden sind, von einem Menschen oder von intelligenten Maschinen stammen. Damit setzen wir Donnerstag-Nachmittag noch einmal ein Ausrufezeichen.

Senator a. D. Ulf Fink

  • Aktuelle Position: Senator a. D. Ulf Fink Kongresspräsident des Hauptstadtkongresses; Vorsitzender des Vereins Gesundheitsstadt Berlin.
  • Ausbildung: Fink, Jahrgang 1942, studierte Volkswirtschaft in Hamburg, Marburg und Bonn.
  • Karriere: Fink war in den 1970er Jahren enger Mitarbeiter des damaligen rheinland-pfälzischen Sozialministers und späteren CDU-Generalsekretärs Heiner Geißler. 1979 Bundesgeschäftsführer der CDU; von 1981 bis 1989 war er Senator für Gesundheit und Soziales in Berlin, von 1990 bis 1994 stellvertretender DGB-Vorsitzender und von 1994 bis 2002 Bundestagsabgeordneter
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