Mini-Organoid mit Potenzial

Das ein Millionstel-Gehirn

Im Labor lassen Wissenschaftler winzige Gehirne wachsen. Die Forscher sagen, deren neuronale Aktivitäten seien mit denen von Babys vergleichbar. Wirklich?

Veröffentlicht:
Amerikanische Forscher tasten sich an das Gehirn heran: Sie schaffen neuronale Netzwerke, die – laut ihren Aussagen – den Gehirnprozessen von Babys ähnlich sind.

Amerikanische Forscher tasten sich an das Gehirn heran: Sie schaffen neuronale Netzwerke, die – laut ihren Aussagen – den Gehirnprozessen von Babys ähnlich sind.

© Aliaksandr Marko / stock.adobe.com

SAN DIEGO. An Miniatur-Gehirnen im Labor haben Forscher elektrische Aktivitäten gemessen, die Hirnströmen frühgeborener Kinder ähneln. Die Mini-Hirne sind etwa eine Million Mal kleiner als ein menschliches Gehirn, zeigen aber ab einem Alter von etwa vier Monaten rhythmische Netzwerkaktivitäten.

Die Forscher um Alysson Muotri von der University of California in San Diego (Kalifornien, USA) sehen solche Organoide als Modelle an, mit denen beispielsweise krankhafte Fehlentwicklungen des Gehirns oder die Wirkung von Medikamenten untersucht werden können. Die Studie ist im Fachmagazin „Cell Stem Cell“ erschienen.

„Das Niveau der neuronalen Aktivität, das wir sehen, ist im Labor beispiellos“, wird Muotri in einer Mitteilung des Fachmagazins zitiert. Seine Kollegen und er seien einem Modell, das die frühen Stadien eines hoch entwickelten Nervenzell-Netzwerks erzeugen kann, einen Schritt näher gekommen.

10 Monate Entwicklung

Die Forscher züchteten zahlreiche der dreidimensionalen Organoide aus speziellen Stammzellen und ließen sie zehn Monate im Labor wachsen. Die Umgebungsbedingungen gestalteten sie so, wie sie für die Entwicklung der Großhirnrinde eines menschlichen Gehirns notwendig sind.

Anhand von genetischen Markern untersuchten die Wissenschaftler, welche Zellen in verschiedenen Stadien im Organoid zu finden sind. Nach einem Monat bestanden die Zellkomplexe zu 70 Prozent aus Vorläuferzellen. Nach drei und sechs Monaten waren vor allem spezialisierte Zellen des Gehirns zu finden, wie Gliazellen und Nervenzellen. Die Forscher entdeckten auch Nervenzellen mit sogenannten GABA-Rezeptoren, die im Labor zuvor noch nicht erzeugt worden seien.

Die etwa erbsengroßen Mini-Hirne wuchsen auf einer Platte mit zahlreichen Elektroden. So konnte das Team um Muotri immer wieder die elektrische Aktivität des sich entwickelnden neuronalen Netzwerks bestimmen. Diese Messungen verglichen sie mit Messungen von Gehirnaktivitäten, die andere Forscher von frühgeborenen Kindern aufgezeichnet hatten. Sie trainierten ein System mit künstlicher Intelligenz mit den Messdaten der Frühchen und das Programm konnte näherungsweise das Entwicklungsstadium der Organoide bestimmen. Ethische Fragen werden tangiert

Muotri und Kollegen sind sich bewusst, dass ihre Forschung auch gesellschaftliche und ethische Fragen aufwirft. Sie betonen, dass die Organoide sich in vielerlei Hinsicht vom menschlichen Gehirn unterschieden. „Das Organoid ist immer noch ein sehr rudimentäres Modell – wir haben keine anderen Gehirnteile und Strukturen“, sagt Muotri.

So fehlten etwa Blutgefäße, auch die Unterteilung in zwei Hirnhälften gebe es nicht. Er hebt vor allem die Chancen hervor: „Ich kann Menschen mit neurologischen Erkrankungen helfen, indem ich ihnen bessere Behandlungen und eine bessere Lebensqualität gebe.“ Muotri ist auch an einem Unternehmen beteiligt, das unter anderem mit Hilfe von Hirn-Organoiden die Therapie bestimmter neurologischer Erkrankungen vorantreiben möchte.

Kritik an Aussage

Oliver Brüstle vom Universitätsklinikum Bonn sieht ebenfalls große Chancen in der Forschung an Gehirn-Organoiden. Er bescheinigt der Gruppe um Muotri eine gute, seriöse Arbeit, die technisch solide gemacht sei.

Allerdings stört er sich an der Interpretation, dass die neuronalen Aktivitäten mit denen von Menschen vergleichbar seien: „Mit einer solchen Aussage sollte man sehr vorsichtig sein.“ Beispielsweise seien hemmende Neuronen in Organoiden schwierig zu realisieren, da sie an anderer Stelle im Gehirn gebildet werden und dann in die Großhirnrinde wandern.

Auch Jürgen Knoblich vom Institut für Molekulare Biotechnologie in Wien (Österreich) hält den Vergleich mit den Hirnaktivitäten von frühgeborenen Kindern für unangemessen: „Diese Interpretation geht zu weit und kann falsche Hoffnungen wecken“. In der wissenschaftlichen Gemeinschaft gebe es zudem Zweifel daran, dass mit der flachen Elektrodenplatte tatsächlich Aktivitäten des gesamten Organoids gemessen wurden. Das Organoid sei jedoch ein sehr gutes Forschungsmodell, viel besser als das bisher oft verwendete Mausmodell. (dpa)

Jetzt abonnieren
Mehr zum Thema

Winziger als ein Reiskorn

Kleinster Schrittmacher der Welt arbeitet mit Licht

Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Jetzt neu jeden Montag: Der Newsletter „Allgemeinmedizin“ mit praxisnahen Berichten, Tipps und relevanten Neuigkeiten aus dem Spektrum der internistischen und hausärztlichen Medizin.

Top-Thema: Erhalten Sie besonders wichtige und praxisrelevante Beiträge und News direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Let‘s talk about...

Tabuthema Sex: Wie spricht man es in der Sprechstunde an?

Blutzuckervariabilität

Wie die Time Below Range das Diabetes-Management verbessert

Vor der Ferienzeit

Beratungsfall Reisemedizin: Worauf es im Patentengespräch ankommt

Lesetipps
Prophylaktische Maßnahmen sind der beste Weg, um Infektionen bei Krebspatientinnen und -patienten zu verhindern. Während und nach ihrer Chemotherapie sind sie dafür besonders anfällig. (Symbolbild)

© RFBSIP / stock.adobe.com

Vorbeugen ist besser als heilen

Wie die Infektionsprophylaxe bei Krebspatienten gelingt

Eine Frau liegt auf dem Sofa und hält sich den Bauch.

© dragana991 / Getty Images / iStock (Symbolbild mit Fotomodell)

Schmerzerkrankung

Endometriose-Leitlinie aktualisiert: Multimodale Therapie rückt in den Fokus