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„Irrsinnig Menschlich“ bringt psychische Gesundheit ins Klassenzimmer
Der Verein „Irrsinnig Menschlich“ will mit innovativen Konzepten zur Prävention von psychischen Erkrankungen vor allem Kinder und Jugendliche erreichen und stärken – beispielsweise mit dem Schultag „Unsere ‚verrückten‘ Familien“.
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Geht es zuhause ziemlich verrückt zu? Beim Schultag des Vereins „Irrsinnig Menschlich“ berichten Kinder von schönen und nervigen Dingen in der Familie.
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Das Tückische an psychischen Erkrankungen ist, dass sie von Generation zu Generation weitergegeben werden können. Wenn Mütter oder Väter ihr eigene Depression, ihre Traumata, ihre Suchterkrankung oder andere psychische Störungen nicht behandeln lassen, leben die Töchter und Söhne mit einem drei- bis vierfach erhöhten Risiko, selbst ebenso psychisch zu erkranken.
Der Verein „Irrsinnig Menschlich“ will mit innovativen Konzepten zur Prävention vor allem Kinder und Jugendliche erreichen und stärken – beispielsweise mit dem Schultag „Unsere ‚verrückten‘ Familien“. Ein Besuch in einer Grundschule in Leipzig.
Welche Gefühle löst die eigene Familie aus?
„Ich habe eine krass große Familie“, sagt Felix und sperrt seine Augen unter der dicken Brille weit auf. Der Achtjährige sitzt im Kreis mit seinen Klassenkameraden an einer Grundschule in einem Vorort von Leipzig.

Sie engagieren sich im Kampf um die Interessen von Menschen mit psychischen Erkrankungen: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Vereins „Irrsinnig Menschlich“ setzen auf Teamgeist und Solidarität.
© Betty Pabst / Irrsinnig Menschlich e.V.
Unter dem Titel „Unsere ‚verrückten‘ Familien“ ist heute ein besonderer Schultag angesetzt. Uta Frömel, Erziehungswissenschaftlerin und Erlebnispädagogin, und Falk Schuster, psychologisch-systemischer Coach und Schauspieler, sind gekommen.
Beide haben bei „Irrsinnig Menschlich“ einen Ausbildungsworkshop durchlaufen, der sie befähigt den Schultag durchzuführen. Beide haben außerdem eine Fortbildung zum Thema „Kinder psychisch erkrankter Eltern“ bei Auryn durchlaufen, einer Familienberatungsstelle für Kinder psychisch erkrankter Eltern in Leipzig. Jetzt arbeiten sie im Auftrag von „Irrsinnig Menschlich“ als Trainer.
Kritische Versorgungslage
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Frömel und Schuster wirken gelassen und konzentriert, den 21 Drittklässlern dagegen fällt das Ruhigsitzen auf dem Boden schwer. Einzelne strecken immer wieder die Beine aus, lehnen sich zurück, stützen sich mit den Armen ab, zupfen die Haare zurecht, ziehen die Kapuzenjacke tief ins Gesicht. Zum Einstieg geht es um das Gefühl für die eigene Familie.
Geschwisterzoff und Musik als Hobby
„Was ist zu Hause ,cool‘? Was ,nervt‘? Und vor allem was könnt ihr Kinder gut“, fragt Falk Schuster in die Runde. „Ich kann ziemlich gut Klavier spielen“, sagt Felix. Und Jana: „Zuhause nerven mich meine Schwester. Und ich kann sehr schön malen.“
Maxim, einer von sechs Jungs aus der Ukraine, redet erst einmal in seiner Muttersprache los und baut die deutschen Wortfetzen ein, die ihn die anderen Ukraine-Jungs zu rufen: „Familie sehr gut – ich maaaag das.“ Sein Talent: „Pfannkuchen backen.“
Clara erlebt oft Streit zuhause, Oleksandr freut sich über seine zahlreichen Cousins, Magdalena wächst ohne Vater auf, Elias ärgert sich über seine Brüder.
Auch an Talenten mangelt es nicht: Harfe und Flöte spielen, klettern, malen, basteln, Badminton, Fußball. Enes, kurze blonde wuschelige Haare, kann Einradfahren „wie im Zirkus“, „sehr gut fallen“ und er kennt seine Diagnose – „ADHS“.
Generell sind psychische Erkrankungen nach wie vor ein Stigma. Betroffene Familien fühlen sich damit häufig überfordert und versuchen, das Leiden zu verbergen.
Katrin Neuperger, Programmleiterin beim Verein „Irrsinnig Menschlich“, verweist später im Gespräch darauf, wie wichtig es ist, die psychischen Erkrankungen zu enttabuisieren. „Wir wollen mit unserem Angebot die Beschäftigten in den Schulen sensibilisieren. Das Familienleben mit psychisch kranken Eltern und Angehörigen soll zu einem selbstverständlichen Thema werden. Frei von Stigmatisierungen, Ängsten und Vorurteilen“, sagt sie.
Weg zu Enttabuisierung
Psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen sind bei Kindern und Jugendlichen die zweithäufigste Ursache für eine Krankenhausbehandlung. Etwa 81.000 der 10- bis 17-Jährigen in Deutschland waren laut den Zahlen des Bundesamtes für Statistik 2022 deswegen stationär aufgenommen worden.
Jedes zweite Kind, jeder zweite Jugendliche von ihnen hat eine weitere Gemeinsamkeit: nämlich ein psychisch erkranktes Elternteil. Der Weg zu Enttabuisierung hat an diesem Schultag mit den Erfahrungen in der eigenen Familie begonnen. Zum Ende um die Mittagszeit werden die Kinder ein Gespür dafür entwickelt haben, was sie selbst in belasteten Situationen tun können und wer ihnen im Notfall weiterhelfen kann.
Belastungen wirken bis in die Schule
Im Klassenzimmer sagt Trainer Falk Schuster dann diesen wichtigen Satz: „Familie ist etwas ganz Wunderbares, aber manchmal nervt sie.“ Mit im Kreis sitzt auf einem kleinen Polster die Klassenlehrerin. Sie hatte die Idee, das Angebot des Vereins an die Schule zu holen und in ihrer Klasse umzusetzen.
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Bei einigen der sieben Mädchen und der 14 Jungs nimmt sie immer wieder hohe familiäre Belastungen wahr. Maja etwa berichtet, dass sie regelmäßig für die Familie einkauft und ihre Geschwister versorgt. Oliver, dessen Mutter früh verstorben ist, hat gut ein Dutzend Klassen- und auch Schulwechsel hinter sich. In der 3c hier in einem Stadtteil von Leipzig soll es nun endlich klappen mit ihm und der Klassengemeinschaft.
„Detektivarbeit“ mit Wimmelbild
Uta Frömel hat jetzt ein riesiges Wimmelbild in die Kreismitte auf den Boden gelegt. Die Drittklässler sollen möglichen Belastungen auf die Spur kommen. Detektivarbeit bei fiktiven Familien ist angesagt.
Zu sehen sind Wohnungen sowie Alltagsszenen von vier Familien: Da sind zwei Kinder, die aufgeregt wirken und telefonieren, dort stapelt sich das Geschirr in der Küche, andernorts hält sich ein Mann die Ohren zu und nebenan hüpft ein Mädchen auf einem Ball herum.
Felix, Elias, Magdalena, Clara, Maja und all die anderen beugen sich über die Zeichnungen, manche nutzen eine Lupe, um die Szene genau zu betrachten. „Was ist wohl los in den Familien? Und wie geht es den Kindern?“, fragt Frömel. Um mehr über die Hauptpersonen auf dem Wimmelbild – Mathilde, Yara, Ari und Oskar – zu erfahren, hat die Trainerin noch „Dokumentenmappen“ verteilt.
Über Zeichnungen verstehen lernen
Darin finden sich Rezepte, Krankschreibungen, Notizzettel und auch jeweils eine Art Steckbrief zu den Kindern: Mathilde vom Wimmelbild ist demnach acht Jahre alt und verfügt über die ,Superkraft‘, anderen helfen zu wollen. Ihre kleine Schwester weint im Zimmer nebenan.
Irrsinnig Menschlich e.V.
Präventionsangebote für Jugendliche und Erwachsene zur psychischen Gesundheit. Der Verein engagiert sich für Aufklärung, Akzeptanz und gegen die Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen.
Gegründet: 2000.
Sitz: Leipzig.
14 Mitarbeitende.
130 nationale (Deutschland: 11 Bundesländer) und internationale Kooperationspartner (Österreich, Slowakei und Tschechien).
1.000 Freiwillige.
Teilnehmer*innen: etwa 60.000 junge Menschen, Lehrkräfte und andere Multiplikator*innen (Quelle: Irrsinnig Menschlich, Stand 2023).
Die Mutter hat dunkle Augenringe und sitzt gebeugt am Küchentisch. Für Edgar aus der 3c reicht ein kurzer Blick auf das Bild: „Das ist keine gute Mutter, die ist plemplem.“
Mitschülerin Maja hält dagegen: „Vielleicht geht es ihr nicht gut, vielleicht ist sie krank?“ In der Tat. Nach und nach ergibt die „Detektivarbeit“ der Schulkinder, dass jeweils ein Angehöriger in allen vier abgebildeten Familien an einer Erkrankung leidet.
Mathildes Mutter ist depressiv, Aris Vater reagiert auf Lärm mit Panikattacken und Angststörungen, Oskars Vater ist alkoholabhängig und Yaras Bruder hat sich das Bein gebrochen. Das Thema Krankheit ist damit endgültig in diesem Klassenzimmer angekommen. Das erste Tabu – das Schweigen und Verschweigen – ist gebrochen.
Hilfe und Unterstützung suchen
„Wir wollen Vorurteile abbauen, weil diese verhindern, dass sich Menschen Hilfe suchen. Wir wollen Krankheiten und Diagnosen entmystifizieren. Wenn wir sie beim Namen nennen und erklären, machen wir sie für die Kinder verstehbar“, sagt Programmleiterin Neuperger. Eltern, die selbst psychisch erkrankt sind, würden sich oft schwer damit tun, dies offen auszusprechen.
Die Kinder nehmen häufig genau wahr, dass es der Mutter, dem Vater nicht gut gehe, und sie schämten sich, wenn sie ihre Familie mit anderen vergleichen. Gegenüber Mutter und Vater würden sie sich gerne loyal verhalten und daher ihre Ängste und Sorgen für sich behalten.
„Mit unserem Präventionsangebot können wir nicht alles Leiden abwenden. Wohl aber können wir den Kindern Verständnis entgegenbringen und sie dabei unterstützen, sich Hilfe und Unterstützung zu suchen“, sagt Neuperger.
Eigene Betroffenheit wird offengelegt
Mutig wird die Aufklärungsarbeit insbesondere dann, wenn sich jene, die anleiten, nicht rausnehmen aus der menschlichen Verletzlichkeit. Eine persönliche Betroffenheit ist beim Verein „Irrsinnig Menschlich“ kein Makel. Wer selbst die Erfahrung einer psychischen Erkrankung gemacht hat, ist eingeladen, an der Aufklärung mitzuarbeiten und darf gerne seine persönliche Geschichte einbringen.
Im Klassenraum holt Falk Schuster einen Stapel Karten aus der Tasche und legt sie in die Kreismitte: Begriffe wie „Kopfschmerzen“, „Beinbruch“, „Angst“, „Gedanken“, „Gefühle“ „Seele“, „Sucht“, „Physisch“, „Psychisch“ sind darauf zu lesen.
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Verein kämpft gegen Stigmatisierung: „Verrückt – na und?“
Gemeinsam mit den Kindern sortiert er: Das sind Krankheiten des Körpers, das sind Krankheiten der Seele. Schuster nutzt die Zeit für eine gute Portion Aufklärung. „Depression – habt ihr davon schon mal gehört?“, fragt er.
Wer daran leide, habe keine Kraft mehr, keine Lust, keine Hoffnung, komme am Morgen nicht aus dem Bett und sei innerlich tief verzweifelt. Psychische Erkrankungen nehmen den ganzen Menschen in Besitz – sein Denken, sein Fühlen und sein Verhalten. Schuster: „Ich weiß das, denn ich habe es selbst so erlebt.“
„Niemand ist schuld an einer Suchterkrankung“
Dass psychische Erkrankungen nicht auf den ersten Blick erkennbar sind, könne dazu führen, dass andere diese nicht ernstnehmen und die Betroffenen leichtfertig abwerten: „Plemplem sein – das ist beispielsweise so eine Redensart, die den anderen klein macht und ihn zusätzlich belastet.“
Die Auslöser von psychischen Störungen seien nur teilweise bekannt. Sicher ist, dass die Erinnerung an schlimme Erlebnisse ebenso zu einer andauernden seelischen Belastung führen kann. „Ganz wichtig. Niemand ist schuld an einer Suchterkrankung oder einem psychischen Leiden. Wenn die Eltern psychisch erkranken, sind niemals die Kinder schuld“, betont Schuster.
Die Schülerinnen und Schüler sind gebannt, hören zu, melden sich, fragen nach, die Unruhe des frühen Vormittags hat sich offensichtlich gelegt. Da streckt Maxim, der Junge aus der Ukraine, seinen Arm in die Luft. Er müsse mal etwas erzählen, sagt er und steht auf.
Von damals als er noch in der Ukraine war. Auf Weg durch die Stadt. Etwa 50 Meter von ihm entfernt. Passiert es. Eine Explosion. Viele Menschen werden verletzt. Am Bauch. „Es war gruselig“, sagt er in klarem Deutsch. Und weiter: „Ich denke noch heute jeden Tag daran.“
Notfallkoffer für die Seele
Am Ende des Vormittags will Falk Schuster den Kindern noch eine Hilfe mitgeben, etwas, auf das sie zurückgreifen können, wenn es zuhause mehr als schräg und nervig wird, wenn es gefährlich ist. „Wir erstellen gemeinsam einen Notfallkoffer für die Seele“, nennt er es.
In der Runde werden Moderationskarten verteilt. Die Kinder schnappen sich Filzstifte und notieren, was ihnen im Alltag bei Stress und heftigen Konflikten weiterhelfen könnte.
Das Repertoire ist breit: „Sich in Sicherheit bringen“ – „Schlafen, schlafen, schlafen“ – „in die Ecke verkriechen“ – auch tauchen die Namen der Klassenlehrerin und der Sozialarbeiterin auf.
Falk Schuster klebt die Karten schließlich auf ein großes Flipchart, das neben der Tafel hängt. Punkt 12 Uhr, die Schulkinder stürmen in Richtung Pausenhof. Das Plakat bleibt als Erinnerung im Klassenzimmer zurück.
Thema nicht abhaken
Wie es in der Klasse 3c in einem Leipziger Stadtteil weitergeht, ist offen. Der Verein „Irrsinnig Menschlich“ empfiehlt, in der Woche nach dem Schultag noch einmal das Thema aufzugreifen, um zu erfahren, was den Schulkindern nachgegangen ist. Wichtig sei, die Fragen der Schülerinnen und Schüler aufzunehmen und sie zu beantworten sowie auf Ressourcen hinzuweisen. Bei Bedarf werde auch der Kontakt zu einem Kooperationspartner wie etwa einen sozialen Träger vor Ort vermittelt.
„Die Schule“, sagt Katrin Neuperger, „ist für die Kinder der Ort, an dem sie sich einem Erwachsenen anvertrauen und mit ihren Gefühlen aufgefangen werden können.“ Dazu brauche es jedoch sensibilisierte Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter, die die Not erkennen und Hilfen vermitteln. Zusätzliche Fortbildungen für Schulfachpersonal fördern dies.
Das Programm Psychisch fit in der Grundschule: „Unsere ‘verrückten‚ Familien“ ist das einzige Präventionsangebot, das sich explizit an Grundschülerinnen und -schüler richtet und dabei deutschlandweit Kooperationspartner sucht. Der Verein hat mittlerweile an bundesweit zwölf Standorten Kooperationen aufgebaut.
Zu den Partnern zählen Abteilungen der öffentlichen Verwaltung – wie etwa die Jugendhilfe und das Gesundheitsamt– oder eben freie Träger. Deren Beschäftigte werden jeweils vor Ort in der Durchführung des Schultages ausgebildet.
2025 haben die Trainerinnen und Trainer des Vereins bereits an 77 Schulen den Schultag durchgeführt, rund 1.400 Schülerinnen und Schüler wurden erreicht. Neuperger: „Unser Ziel ist es, möglichst viele Schulkinder zu erreichen und für psychische Gesundheit zu sensibilisieren. Die Kinder sollen wissen, wo sie schnelle Unterstützung finden können. Um das zu realisieren, wollen wir unser Netzwerk fortlaufend erweitern, so dass wir unser Präventionsangebot flächendeckend anbieten können.“
Irrsinnig Menschlich e.V. ist Gewinner des Springer Medizin Charity Awards 2024. Dieser Beitrag soll die Arbeit der Preisträger*innen würdigen und entstand im Rahmen eines Medienpaketes, das Teil der Auszeichnung ist.