Andere Kulturen, andere Symptome
Was alles kann hinter der Bulimie einer jungen muslimischen Patientin stecken? In Arztpraxen werden kulturelle Unterschiede oft schneller deutlich als im Alltag. Die Bundesärztekammer rät zur Aufmerksamkeit.
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Eine junge muslimische Frau sucht Rat bei einer Ärztin. Dafür brauchen Arzt und Team Einfühlungsvermögen.
© Klaus Rose
BERLIN. Als sich ein türkischstämmiger Arzt in einer kleinen Ortschaft in Deutschland niederließ, ging ein Aufatmen durch die in der Gegend wohnende muslimische Gemeinschaft.
"Die Menschen freuten sich: Endlich ist ein Arzt für uns da", beschreibt die Sozialwissenschaftlerin und Publizistin Necla Kelek die Reaktionen auf die Eröffnung der neuen Praxis. Das Wartezimmer des Arztes sei vom ersten Tag an überfüllt gewesen.
Kulturelle Unterschiede bei der Wahrnehmung von Krankheiten
Viele der in Deutschland lebenden rund vier Millionen Menschen mit muslimischer Herkunft suchten am liebsten eine Praxis auf, in der sie sich verstanden fühlten, so Kelek. Sie hätten eben mehr Vertrauen in einen "Landsmann". Denn auch bei sowohl bei den Ursachen als auch bei der Wahrnehmung von Krankheiten gebe es kulturelle Unterschiede.
Als Beispiel nennt sie das stressbedingte und durch schlechte Arbeits- und Wohnbedingungen hervorgerufene Magengeschwür. "Türkische Mitbürger haben auch signifikant häufiger Diabetes", sagte Kelek während des 36. Interdisziplinären Forums der Bundesärztekammer in Berlin. Ärzte müssten den Betroffenen gezielt eine Ernährungsberatung anbieten.
Solche Diagnosen seien jedoch nur ein Teil des Problems. Zusätzlich gebe es nämlich auch Indikationen, die ausschließlich in der islamischen Gesellschaft ihre Ursache hätten und nur in den Traditionen und Werten der Kultur des Islam begründet seien.
Dazu gehört aus Sicht der Sozialwissenschaftlerin unter anderem die wahrscheinlich häufige Rekonstruktion des Jungfernhäutchens. Damit solle die "Unberührtheit" der Frau durch einen chirurgischen Eingriff wieder hergestellt werden. Für muslimische Frauen sei vorehelicher Sex verboten.
Stresskrankheiten wie Bulimie und Anorexie sind häufiger
Der soziale Druck führt auch zu psychischen Problemen bei muslimischen Frauen. Zum Beispiel würden Töchter nicht selten von ihrer Familie gezwungen zu heiraten oder gegen ihren Willen isoliert.
Das führe zu häufig auftretenden Depressionen sowie Stresskrankheiten wie Bulimie und Anorexie, im Extremfall sogar zur Selbsttötung. Unter jungen Muslima sei die Suizidrate höher als bei Gleichaltrigen anderer Religionen.
Ärzte aber auch Pflegepersonal müssten sich auf die kulturellen Unterschiede einstellen, sagte Dr. Max Kaplan, Vizepräsident der Bundesärztekammer (BÄK). Daher biete die BÄK entsprechende Fortbildungen für Ärzte, um ihnen Kenntnisse über die psychosozialen Bedingungen und kulturellen Hintergründe für Gesundheitsprobleme von Migranten zu vermitteln.
Die Sozialwissenschaftlerin Kelek will deutlich mehr: eine gesellschaftliche Diskussion. "Ärzte alleine können diese Probleme nicht dauerhaft lösen", so Kelek.