Gastbeitrag

Das neue „Primärarztsystem“ – zum Scheitern verurteilt?

Wie kann ein primärärztlich organisiertes System echte Einsparungen bringen? Ein Punkt wäre, Hausärzte dafür zu belohnen, wenn sie für ihre Patienten nicht nur „Überweisungsmaschinen“ sind.

Ein Gastbeitrag von Ulrich Wüllenkämper Veröffentlicht:
Wie kommt es überhaupt dazu, dass unnötige medizinische Untersuchungen und Maßnahmen durchgeführt werden? Jeder ahnt es: Die Ärzte verdienen Geld damit.

Wie kommt es überhaupt dazu, dass unnötige medizinische Untersuchungen und Maßnahmen durchgeführt werden? Jeder ahnt es: Die Ärzte verdienen Geld damit.

© Syda Productions / stock.adobe.com

Die Hausärzteverbände versuchen seit Jahren, zu erklären, dass eine „Hausarztzentrierte Versorgung“ (HZV) die Effizienz, das heißt, den Output an medizinischen Leistungen bei gegebenem Aufwand beziehungsweise Kosten, im deutschen Gesundheitssystem steigern wird. Neuerdings erklären dies auch unsere Gesundheitspolitiker und nennen das Ganze „Primärarztsystem“. Es soll für die Beitragszahler durch ein Primärarztsystem günstiger beziehungsweise nicht noch teurer werden, bei gleicher oder besserer medizinischer Leistung.

Dr. Ulrich Wüllenkemper ist Hausarzt in Potsdam und aktiv im Verein für fachärztliche Primärmedizin in Potsdam.

Dr. Ulrich Wüllenkemper ist Hausarzt in Potsdam und aktiv im Verein für fachärztliche Primärmedizin in Potsdam.

© karo.wolf.photography

Kernthese ist, dass durch Primärärzte „unnötige Untersuchungen verhindert werden“ und „die Patienten vom Primärarzt gleich zum richtigen Fachgebietsarzt gelotst werden“. Und somit Kosten eingespart werden. Stimmt diese These eigentlich?

Grundsätzlich richtig ist, dass durch Unterlassen von medizinischen Untersuchungen oder medizinischen Maßnahmen zunächst Geld eingespart wird. Und wenn diese Untersuchungen und Maßnahmen unnötig und überflüssig sind beziehungsweise gewesen wären, kommt es dadurch nicht einmal zu Qualitätseinbußen.

Ärzte werden nicht für Effizienz bezahlt

Es stellt sich allerdings die Frage: Wie kommt es überhaupt dazu, dass unnötige medizinische Untersuchungen und Maßnahmen durchgeführt werden? Jeder ahnt es: Die Ärzte verdienen Geld damit. Denn Ärzte werden im deutschen Gesundheitssystem nicht für Effizienz oder gar für das Unterlassen und Einsparen von eigentlich unnötigen Untersuchungen oder sogar für das „Heilen“ bezahlt, sondern für das Durchführen von Untersuchungen und Maßnahmen. Solange das so ist, wird sich nichts ändern.

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Es gibt Ärzte, die führen kleine und kostengünstige Untersuchungen durch (zum Beispiel Gespräche und körperliche Untersuchungen), und es gibt Ärzte, die für große und teure Untersuchungen/Maßnahmen zuständig sind (zum Beispiel Untersuchungen mit kleinen oder großen Apparaten oder operative Eingriffe).

Teure Untersuchungen bringen manchmal wenig Nutzen

Bei den großen und teuren Untersuchungen und Maßnahmen ist die Gefahr besonders groß, dass diese nicht effizient sind. Sie bringen manchmal wenig bis keinen medizinischen Nutzen, kosten den Beitragszahler aber viel Geld. Ein unnötiges Gespräch und eine unnötige körperliche Untersuchung kosten auch Geld, aber viel weniger.

Manche Ärzte haben sich auf kleine und kostengünstige Untersuchungen/Maßnahmen spezialisiert, manche auf große und teure. Und hier kommt das Primärarztsystem ins Spiel: die Patienten sollen bitte (erstmal) zu den Ärzten gehen, die sich auf die kleinen und günstigen Untersuchungen spezialisiert haben. Anscheinend halten die Befürworter des Primärarztsystems das für möglicherweise effizienter, als gleich zu den Ärzten zu gehen, die sich mit den kleinen und günstigeren Untersuchungen gar nicht gut auskennen, sondern nur mit den großen und teuren.

Spielt es eigentlich keine Rolle, was Patienten wollen?

Erstere Ärzte (sogenannte Hausärzte) sollen im Primärarztsystem entscheiden, ob der der Patient zu den anderen Ärzten gehen „darf“. Sie sollen quasi Berechtigungsscheine (Überweisungen) ausstellen. Sie sollen nach (kleiner und günstiger) Untersuchung frei entscheiden, ob der Patient die Legitimation für den Besuch eines anderen Arztes erhält. Dabei soll es keine Rolle spielen, was ein Patient möchte – oder doch?

Zu bedenken ist: Auch der Primärarzt – oder seine Kollegin – wird nicht honoriert, wenn er effizient ist, also den Patienten nicht zu anderen Ärzten überweist bzw. den Fall alleine löst ohne Hinzuziehung anderer/weiterer Ärzte. Er soll das offenbar aus einer inneren Motivation heraus machen. Zum Wohle der Effizienz des Gesamtsystems. Wirtschaftlich sinnvoll ist für Hausarztpraxen das Gegenteil: Aktuell bekommen Hausärzte sogar Geld, wenn sie Patienten zum anderen, teureren Arzt weiterleiten. Sie erhalten 15 Euro, wenn sie feststellen, dass sie selbst nicht kompetent genug sind, um einen Patienten suffizient akut zu behandeln, und ihn demzufolge schnell an eine andere (Fach-)Ärztin weiterleiten. Letztere erhält dafür sogar eine doppelte Pauschale.

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Daraus resultiert, dass einige Fachärzte im aktuellen System nur noch Akutpatienten mit derartigen Überweisungen behandeln. Überspitzt formuliert, in diesem System wird Nicht-Behandlung durch die Primärärzte besonders honoriert. Mit hohen Folgekosten für die Beitragszahler (doppelte Pauschale für den Spezialisten und 15 Euro für Primärärzte).

Wo bleibt die Belohnung?

Damit ein Primärarztsystem die Effizienz steigern kann, müssen Primärärzte motiviert werden, effiziente Medizin zu machen. Sie müssen dafür belohnt werden, wenn sie unnötige und doppelte Untersuchungen verhindern. Die Überweisung „sicherheitshalber“ zum MRT oder zum Spezialisten/Facharzt muss hinsichtlich ihrer Effizienz abgewogen werden. Ein Primärarzt, der Patienten ohne Überweisung (das heißt, ohne Auslösung von weiteren Kosten) selbst untersucht und behandelt beziehungsweise die Kompetenz dazu besitzt, muss finanziell belohnt und nicht bestraft werden, damit sich ein sinnvolles Primärarztsystem etablieren kann.

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Die im SGB V festgelegte Maßgabe, dass nur „wirtschaftliche, ausreichende und zweckmäßige“ medizinische Maßnahmen von den gesetzlichen Krankenkassen zu erstatten sind, führt zwischen allen Beteiligten (Arzt, Patient, Krankenkassen) ständig zu erheblichen Konflikten, da dies viel zu unscharf definiert ist und von allen Beteiligten in ihrem eigenen Interesse ausgelegt werden kann. Vor allem die Ärzte geraten hier zwischen die Fronten und müssen das aushalten.

Lobbyarbeit macht es möglich

Ein Beispiel: Der Durchschnittspreis für eine sogenannte Digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) liegt aktuell bei 628 Euro jährlich, egal, ob sie nach Freischaltung durch einen Patienten nachhaltig genutzt wird oder nicht. Die Quartalspauschale für unbegrenzten Zugang ins Sprechzimmer eines Hausarztes inklusive Beratung und Untersuchungen, auch in Akutfällen liegt bei 50 Euro, also 200 Euro jährlich, also weniger als ein Drittel der Jahreskosten für eine DiGA zum Beispiel für digital betreutes Abnehmen.

Man muss hier nicht näher erklären, dass offenbar auf die Effizienz bei der Bezahlung von medizinischen Leistungen nicht geachtet wird. Erklärbar ist das einzig durch Lobbyarbeit der Medizinindustrie sowie „beeinflussbare“ Entscheider im Gesundheitssystem. Insbesondere im Bereich der Pharmaindustrie ließen sich hier noch weitere Beispiel anführen, aber auch bei Ärztehonoraren (Beratungsleistungen vs. Apparateuntersuchungen).

Der Deal mit der „Pauschale“ – Leistung wird bestraft

Eine pauschale Vergütung heißt, dass Ärzte unabhängig von der geleisteten Arbeit bezahlt werden. Bezahlt wird ganz am Anfang, beim Einlesen der Chipkarte wird die Pauschale virtuell gutgeschrieben. Neben der Pauschale können nur Leistungen abgerechnet werden, die indiskutabel schlecht honoriert werden. Exemplarisch sei hier die Lungenfunktionsuntersuchung genannt, die mit 6,57 Euro brutto vergütet wird. Auftraggeber (Krankenkassen) und Auftragnehmer (Ärzte) einigen sich also auf eine pauschale Vergütung, eine Wette darüber, wie viel Arbeit für die Praxis im Quartal wohl anfallen mag.

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Eine wirtschaftlich agierende Hausarztpraxis muss nach dem ersten Kontakt mit dem Patienten versuchen, den weiteren Arbeitsaufwand möglichst klein zu halten, also den Patienten möglichst nicht erneut im selben Quartal zu empfangen und ihn bei weiterem Behandlungsbedarf möglichst zu anderen Ärzten zu „überweisen“ oder notwendige Behandlungen möglichst ins nächste Quartal zu „verschieben“.

Statt eine Lungenfunktionsuntersuchung für 6,57 Euro selbst durchzuführen ist es wirtschaftlich viel sinnvoller, den Patienten zum Lungenarzt zu überweisen (der dann eine erneute volle Pauschale auslöst). Engmaschige Kontrolluntersuchungen bzw. „Wiedervorstellungen“ und hoher Zeitaufwand werden zum wirtschaftlichen Risiko, da dies nicht über die Pauschale hinaus vergütet wird. Ziel von allen betriebswirtschaftlich agierenden Praxen ist es, den Aufwand für die Abrechnung der Quartalspauschale möglichst klein zu halten.

HÄVG-Praxen sind chancenlos

Umgehen kann man als Arzt das wirtschaftliche Risiko, indem man den Patienten nur einmal im Quartal in sein Sprechzimmer lässt, also nur die minimalen Bedingungen für die pauschale Vergütung erfüllt. Das ist recht einfach zu bewerkstelligen für Terminpraxen bzw. Gebietsarztpraxen. Weitaus schwieriger gestaltet sich das für Praxen mit Verpflichtung zur Akutsprechstunde und insbesondere für Hausarztpraxen, die ja bei den Patienten immer noch als für „immer und überall zuständig“ betrachtet werden.

Die Haus- beziehungsweise Primärarztpraxen brauchen im System der Pauschalen also ein besonders widerstandsfähiges Bollwerk, um wirtschaftlich zu Rande zu kommen, das heißt, um nicht zum Verlierer der Wette mit der Pauschale zu werden.

Völlig chancenlos sind hier Praxen, die Patienten in den von der HÄVG ausgehandelten selektiven Hausarztvertrag eingeschrieben haben. Hier haben die Patienten ein verbrieftes Recht, bei akuten Problemen taggleich einen Termin zu erhalten (Paragraf 3 (2)c)). Sollte das auch im kollektivvertraglichen Primärarztsystem so kommen (begrenzte Pauschale für die Praxis und vertraglich zugesichertes/gefühltes Recht auf unbegrenzten Zugang für die Patienten), würde sich das Geschäft für Primärärzte in keinster Weise mehr rechnen.

Das Krankheitsrisiko bzw. das Risiko des Versicherungsfalls und des daraus entstehenden notwendigen medizinischen Aufwandes muss zurück auf den Versicherer oder den Versicherten übertragen werden. Pauschale Vergütungen führen dazu, dass Ärzte gegen das Interesse von Patienten agieren (müssen).

Primärarztmodell in der PKV

Erfahrungen mit Primärzt-/Hausarztmodellen in Deutschland gibt es schon, nämlich in der PKV. Manche Krankenversicherungen bieten ihren Kunden sogenannte „Hausarztverträge“ an, diese sind bei den Prämien etwas günstiger als die Normaltarife. Der Privatversicherte muss immer erst zum Hausarzt (zum vermeintlich günstigeren und effizienteren Arzt) gehen und sich eine Überweisung für den (teureren Spezialarzt) „holen“.

Interessanterweise geben die Privaten Krankenkassen als entscheidendes Einsparpotenzial an, dass Hausärzte meist nur mit dem 2,3-fachen Satz, Fachärzte dagegen mit dem 3,5-fachen Satz abrechnen. Offenbar ist sogar ein bis auf wenige Ausnahmen doppelter Arztkontakt (erst Hausarzt, dann Facharzt) im gleichen Behandlungsfall für die PKVen günstiger als ein einziger Arztkontakt (nur Facharzt). Das ist bemerkenswert. Das Einsparpotenzial durch den (effizienten) Primärarzt – wenn er denn den Spezialarztbesuch erspart – ist so hoch, dass selbst oft anschließende Facharztüberweisungen kompensiert werden.

Kein Anreiz, um Überweisung zu verweigern

In der Praxis läuft es allerdings so ab, dass der im Hausarztvertrag Privatversicherte sich seine Überweisungen beim Hausarzt oft nur „abholt“, da er genau weiß, zu welchem Arzt er möchte und es für den Hausarzt keinerlei Anreiz gibt, diese Überweisungen zu verweigern. Ähnlich wird es nach aktuellem Stand im neuen Primärarztmodell der GKV ablaufen. Der Hausarzt wird so zur „Überweisungsmaschine“, und rechnet trotzdem die Pauschale ab.

Fazit: Ein Primärarztsystem spart Geld, ohne dass dabei die medizinische Qualität sinkt, wenn unnötige und uneffiziente medizinische Untersuchungen und Maßnahmen unterlassen werden. Damit dies geschieht, braucht es finanzielle Anreize und sehr verbindliche Definitionen, welche Untersuchungen/Maßnahmen wirtschaftlich, zweckmäßig und notwendig sind.

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