Interview

Influenza-Experte: "Grippewelle kann richtig in Gang kommen"

Die Schweinegrippe-Pandemie ist schon lange vorüber, doch das Virus ist geblieben - als saisonales Grippevirus. Seine Wirkung kann es noch immer entfalten, denn: "Während der Pandemie hat sich nur ein Teil der Bevölkerung angesteckt. Die anderen sind weiterhin empfänglich", sagt Privatdozent Walter Haas vom Robert Koch-Institut im Interview.

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Szenen wie aus einem Katastrophenfilm: Zu Massenimpfungen, wie hier 2009 bei einer Katastrophenschutzübung in Essen, wird es wohl kaum kommen. Doch die Grippe kann noch richtig in Gang kommen.

Szenen wie aus einem Katastrophenfilm: Zu Massenimpfungen, wie hier 2009 bei einer Katastrophenschutzübung in Essen, wird es wohl kaum kommen. Doch die Grippe kann noch richtig in Gang kommen.

© Jochen Tack / imago

Ärzte Zeitung: In den Medien wird wieder über Schweinegrippe-Tote berichtet. Früher gab es solche Meldungen zu Grippetoten nicht. Wird stärker auf Influenza getestet?

Privatdozent Walter Haas: Ganz sicher ist das Bewusstsein auch in der Ärzteschaft gewachsen, dass eine Influenza in der Differenzialdiagnose bei schweren Erkrankungen sehr wohl eine Rolle spielen kann. Das ist früher eher unterschätzt worden.

In der Pandemie wurde deutlich, dass bei Risikopatienten und Anzeichen für einen schweren Verlauf spezifisch therapiert werden muss. Und immer, wenn es eine spezifische Therapie gibt, ist auch die Motivation zur Diagnosesicherung durch den Erregernachweis größer, um zu klären, ob die Therapie eingesetzt werden kann.

Ärzte Zeitung: Dauert der Test aber nicht zu lang?

Haas: Das Ergebnis liegt in der Regel innerhalb eines Tages vor. Bei schwerer Erkrankung muss allein aufgrund der Klinik entschieden werden. Hierbei helfen die epidemiologischen Daten aus dem Sentinelsystem der Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI), genauer gesagt die Positivenrate.

Sie gibt an, wie viele der untersuchten Proben - bei jeder akuten respiratorischen Erkrankung - auf Influenza positiv sind. Wir liegen da in Deutschland jetzt bei über 40 Prozent. Das heißt, man hat jetzt schon anhand der typischen influenzaartigen Symptome eine gute Vorhersagekraft der klinischen Diagnose.

Ärzte Zeitung: Ab welcher Positivenrate beginnt eine Grippewelle?

Haas: Das lässt sich nicht absolut formulieren. Wir haben ein System, das wir in den letzten 15 Jahren sehr weit entwickelt haben. Eine Positivenrate von über 20 Prozent bedeutet, dass wir nicht mehr nur sporadische Fälle haben.

Vielmehr zirkuliert das Virus so stark in der Bevölkerung, dass sich eine Grippewelle aufbaut - in den nächsten zwei Wochen. Es müssen genug Proben eingehen und das untere Ende des Vertrauensbereichs über zehn Prozent liegen. Dabei gibt es Variationen in der Verbreitungsgeschwindigkeit, je nach Subtyp oder Gegebenheiten wie Winterferien.

Ärzte Zeitung: Weihnachtsferien wirken sich auf eine Grippewelle aus?

Influenza-Experte Haas: "Richtig ins Laufen kommt die Grippe, wenn die Feiertage und Ferien vorbei sind."

Influenza-Experte Haas: "Richtig ins Laufen kommt die Grippe, wenn die Feiertage und Ferien vorbei sind."

© RKI

Privatdozent Walter Haas

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Haas: Wir beobachten immer wieder - auch bei der vergangenen Pandemie: Kinder und Jugendliche sind häufige Überträger. Sie müssen nicht selbst erkranken. Wenn Ferien sind, kann das die Ausbreitung bremsen.

Insofern haben wir häufig eine steigende Influenza-Aktivität wie jetzt vor Weihnachten, richtig ins Laufen kommt das alles, wenn die Feiertage und Ferien vorbei sind. Dann gibt es wesentlich mehr Kontakte unter Kindern und Jugendlichen in der Schule. Kinder und Jugendliche werden auch als der "Motor der Epidemie" bezeichnet.

Ärzte Zeitung: Auf der Südhalbkugel gab es vergangenen Winter regional große Unterschiede bei den zirkulierenden Grippe-Viren. Wie kommt das zustande?

Haas: Wir beobachten auch auf der Nordhalbkugel oft Unterschiede, in Europa eine andere Verbreitung als in den USA. Die Variabilität kommt dadurch zustande, dass schon früher unterschiedliche Viren verbreitet waren und so die Grundimmunität in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen nicht immer identisch ist.

Das haben wir an der pandemischen Grippewelle gesehen, als Menschen über 60 Jahre weniger infiziert wurden. Man geht davon aus, dass diese in einer Zeit aufgewachsen sind, als noch Nachkommen des pandemischen Virus von 1918 zirkulierten. Das war bis 1957 so. Diese Viren haben eine höhere Ähnlichkeit zum neuen H1N1-Virus.

Ähnliche Beobachtungen gibt es auch bei saisonalen Influenzawellen. Wenn etwa in zwei Saisons H3N2-Viren zirkulierten, herrschen in nachfolgender Saison eher andere Subtypen vor. So lässt sich ein Teil der Unterschiede erklären.

Deswegen ist die Überwachung für eine Region, oder für ein Land wie etwa Deutschland wichtig, weil man nicht automatisch folgern kann, dass die eigene Situation der eines Nachbarlandes entspricht.

Auch die Stärke der Ausbreitung und die Häufigkeit schwerer Erkrankungen können variieren, abhängig sowohl von der Zusammensetzung der Bevölkerung, der Zahl der Risikogruppen, aber auch von der immunologischen Vorerfahrung dieser Menschen mit Influenzaviren.

Ärzte Zeitung: Verläuft ein Großteil der Erkrankungen also eher milde?

Haas: Das ist meist richtig, wobei auch eine typisch verlaufende Erkrankung sehr unangenehm ist und über längere Zeit nachwirken kann. Handelt es sich um saisonal zirkulierende Viren, besteht eine Grundimmunität, weil sich die Viren dadurch auszeichnen, dass sie sich schrittweise verändern, die sogenannte Antigen-Drift.

Auch größere antigenetische Änderungen sind möglich, sodass der Impfstoff jährlich angepasst werden muss. Dennoch baut sich eine gewisse Immunität mit Schutz vor schwereren Erkrankungen auf, wenn es über mehrere Saisons Kontakt mit diesen Viren gab.

Anders ist die Situation bei neuen Subtypen oder wenn - wie bei der Schweinegrippe - ein Pseudoshift erfolgt: Das Virus ist antigenetisch etwa gleich weit entfernt von zuvor beim Menschen zirkulierenden H1 wie von dem Subtyp H2. In weiten Kreisen der Bevölkerung ist dann keine Grundimmunität vorhanden. Deshalb konnte sich das neue H1N1-Virus so schnell ausbreiten.

Trotz der in der Regel meist milden Verläufe gab es durch H1 vermehrt schwere primär virale Erkrankungen wie virale Pneumonien oder Herzmuskelentzündungen. Das tritt deutlich häufiger auf, wenn keine Grundimmunität vorhanden ist.

Wir beobachten dies auch bei Kindern, wenn in mehreren Saisons ein gleicher oder ähnlicher Subtyp zirkulierte etwa H1 und dann ein H3-Virus die Hauptrolle übernimmt.

Kinder, die erstmals eine solche H3-Saison erleben, sind deutlich stärker gefährdet, weil sie eben keine Grundimmunität haben. Das war 2003 der Fall, als Todesfälle auch bei Kindern beobachtet wurden, besonders in den USA und Schottland.

Ärzte Zeitung: Hat regelmäßiges Impfen einen Vorteil, weil dann die Grundimmunität höher ist?

Haas: Das ist zumindest plausibel, weil die Impfung ja die Auseinandersetzung des Immunsystems mit dem Erreger simuliert. Es gibt Untersuchungen, dass regelmäßige jährliche Impfung einen besseren Schutz bringen kann.

Die in Deutschland zugelassenen inaktivierten Impfstoffe beruhen tatsächlich auf der Auffrischung der Immunität, weshalb bei immunologisch naiven Kindern unter zehn Jahren eine zweimalige Impfung für einen Schutz erforderlich ist.

Ärzte Zeitung: Zur saisonalen Influenza gab es Daten zur Übersterblichkeit, wie sehen hier die Zahlen zur Pandemie aus?

Haas: Die Auswertung erfolgt derzeit, basierend auf den validierten Daten des Statistischen Bundesamtes zur Gesamtmortalität. In Hessen wurden schon Daten analysiert, und es gibt auch ein europäisches Projekt zur Mortalitätssurveillance.

Auch in diesen Analysen wurde bisher keine Übersterblichkeit beobachtet. Allerdings gab es in den europäischen Daten ein Signal, das möglicherweise einer Übersterblichkeit bei jungen Schulkindern entspricht. Insgesamt ist bezüglich der Übersterblichkeit auf Bevölkerungsebene die pandemische Welle 2009 eher günstig abgelaufen.

Ärzte Zeitung: Warum fehlt die Übersterblichkeit von saisonaler Influenza oder warum ist sie so gering?

Haas: Auch bei saisonaler Influenza ist die Übersterblichkeit sehr variabel. Das hängt auch damit zusammen, dass von schweren Erkrankungen durch das neue H1N1-Virus eher jüngere Altersgruppen betroffen waren, die von vornherein weniger Grundkrankheiten mitbringen.

Bei über 60-Jährigen ist der Anteil von chronischen Erkrankungen viel höher. Schwere und tödliche Erkrankungen betrafen zu 85 Prozent Patienten mit Grunderkrankungen. Weiterhin haben die präventiven Maßnahmen, eine rasche Diagnostik, der gezielte Einsatz der spezifischen Therapie und die exzellente medizinische Versorgung in Deutschland dazu beigetragen.

Auch in Deutschland gab es außer den Todesfällen auch schwere Krankheitsfälle, die durch den massiven Einsatz von Intensivmedizin gerettet werden konnten.

Ärzte Zeitung: Australien hatte die Pandemie als eine der stärksten Grippewellen bezeichnet, wenn die Zahl verlorener Lebensjahre berücksichtigt wird. Macht es nicht einen Unterschied, ob ein 40- oder ein 80-Jähriger an Influenza stirbt?

Haas: Natürlich ist es ein Problem, wenn man nur Todesfallzahlen miteinander vergleicht, das ist wie mit Äpfeln und Orangen. Daher ist ein altersspezifischer Vergleich der Schwere mit anderen Grippewellen oder früheren Pandemien wichtig. Dem wird versucht, durch Einbeziehung der verlorenen Lebensjahre gerecht zu werden.

Man muss sich im Klaren sein, auch wenn wir sehr viel Diagnostik hatten, dass es auch schwere Erkrankungen gab, ohne Labornachweis, gerade weil in einer Pandemie die klinische Diagnose ausreichend sicher war. Trotzdem kann man festhalten, dass es mit der Gesamtzahl der Todesfälle und der Übersterblichkeit günstiger verlaufen ist als befürchtet.

Hier kommen sowohl die Gegenmaßnahmen, die Vorbereitungen, die medizinische Versorgung wie auch die Eigenschaften dieser Pandemie zusammen. Insgesamt ergab sich in Deutschland eine günstige Situation.

Überwiegend waren Kinder, Jugendliche und jüngere Erwachsene von schweren Erkrankungen betroffen, das ist typisch für Influenzapandemien und soll in die Analyse und Bewertung mit eingehen. Andererseits fand sich bei älteren Menschen über 60 Jahre, wenn sie erkrankten, die höchste Sterblichkeit.

Ärzte Zeitung: Sollte das H1N1-Virus bei der hohen Zahl der Infektionen durch die Pandemie nicht verschwinden?

Haas: Nein, es ist nicht überraschend, dass H1N1 wieder zirkuliert. Es hat zwar hohe Infektionsraten gegeben, aber auch in einer pandemischen Welle werden nicht alle Menschen infiziert. Es gab in Deutschland auch keine hohen Impfraten.

Also sind auch weiterhin Menschen empfänglich für das Virus. Und wie in der ersten Welle beobachten wir wieder, dass es bei diesen empfänglichen Personen wieder zu schweren Verläufen kommen kann, wenn Grunderkrankungen vorliegen.

Ärzte Zeitung: Also soll jeder Patient mit einer Grunderkrankung auch geimpft werden?

Haas: Wichtig ist es gerade, die Risikogruppen zu schützen. Und wichtig ist auch eine frühzeitige Diagnosestellung und bei Anzeichen für eine schwere Erkrankung rasch, das heißt, unabhängig vom Vorliegen des Ergebnisses über den Einsatz von Neuraminidasehemmern zu entscheiden.

Und das gilt nicht nur bei den Risikogruppen und bei den nicht Geimpften. Auch andere Menschen können bei immunologischer Naivität mit schweren Verlaufsformen erkranken. Das wird am Beispiel des vor kurzem verstorbenen dreijährigen Mädchens deutlich. Die Erkrankung verlief innerhalb nur eines Tages so rasch, dass das Kind nicht mehr zu retten war.

Ärzte Zeitung: Kann bei Geimpften eine Influenza ausgeschlossen werden, selbst bei den typischen Anzeichen?

Haas: Selbst bei Geimpften muss man sich bewusst sein, dass eine Impfung keinen 100-prozentigen Schutz gibt. Auch wenn wir erwarten, dass der Verlauf in der Regel weniger schwer ist. Außerdem gibt es bei Viren vom B-Typ zwei unterschiedliche Linien und nur eine davon ist im aktuellen Impfstoff enthalten. Und es zirkulieren aktuell beide B-Linien.

Wie sich die Situation mit den unterschiedlichen Grippeviren bei uns entwickelt, lässt sich jetzt noch nicht sagen. Aktuell liegt der B-Anteil in Deutschland bei 20 Prozent.

B-Viren waren in den vergangenen Jahren weniger dominant, daher ist es nicht überraschend, dass sie jetzt wieder vermehrt zu Grippeerkrankungen beitragen.

In den Herbst- und Spätsommermonaten haben wir gesehen, dass besonders im ostasiatischen Raum B-Viren sehr dominant waren, mit bis zu 60 Prozent der Erkrankungen. Es gab auch schon Saisons, in denen wir erst eine H3-Welle hatten und sich danach verzögert eine B-Welle aufgebaut hat.

Das Interview führte Michael Hubert

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