Hintergrund

Trotz neuen Zeitfensters: Beim Schlaganfall gilt weiter "so schnell wie möglich"

Da jetzt das Zeitfenster für eine Lysetherapie bei Schlaganfall erweitert wurde, dürfte sich die Zahl der Lyse-Patienten verdoppeln. Mehr Zeit für Ärzte bleibt deswegen aber nicht. Denn weiterhin gilt: Je früher die Lyse, desto größer der Erfolg.

Philipp Grätzel von GrätzVon Philipp Grätzel von Grätz Veröffentlicht:

Die Europäische Schlaganfall-Gesellschaft ESO empfiehlt ab dieser Woche offiziell bei ischämischem Schlaganfall eine Lyse bis zu viereinhalb Stunden nach Symptombeginn. "Damit könnten wir es in gut organisierten Kliniken schaffen, etwa jeden fünften Patienten mit ischämischem Schlaganfall mit einer Lysetherapie zu behandeln", schätzt Professor Werner Hacke von der Universität Heidelberg.

Therapie bisher für 10, jetzt für 20 Prozent der Patienten

Die Rechnung geht so: Bisher erreichen in Deutschland etwa 20 Prozent aller Schlaganfallpatienten früh genug eine Notaufnahme, um für eine Lysetherapie infrage zu kommen. "Mit dem erweiterten Zeitfenster haben wir die Lyseoption jetzt für weitere zwanzig Prozent aller Schlaganfallpatienten", betonte Professor Martin Grond vom Kreisklinikum Siegen bei der Arbeitstagung Neurologische Intensivmedizin in Leipzig. Rein zeitlich kämen also 40 Prozent aller Schlaganfallpatienten infrage.

In großen Zentren wird etwa die Hälfte dieser Patienten mit Lysetherapie behandelt. Bei den anderen liegen Kontraindikationen oder andere Gründe vor, die eine Lyse ausschließen. Folglich bekommen bislang etwa zehn Prozent aller Schlaganfallpatienten eine Lysetherapie.

Nimmt man an, dass auch bei Anwendung des neuen Zeitfensters ebenfalls die Hälfte der rein zeitlich infrage kommenden Patienten für die Lyse geeignet sind, kommt man auf einen Anteil von etwa 20 Prozent aller Patienten mit ischämischem Schlaganfall, die im Idealfall eine Lysetherapie bekommen sollten.

Lyse am erfolgreichsten innerhalb von 90 Minuten

Hacke betonte, dass die Ergebnisse der ECASS-III-Studie nicht dazu verleiten dürften, dass sich Ärzte bei der Notfalltherapie von Schlaganfallpatienten jetzt mehr Zeit ließen. "Die Patienten haben mehr Zeit, nicht aber die Ärzte", so Hacke auf einer von Boehringer Ingelheim unterstützten Veranstaltung. Denn bei früher Lyse innerhalb der ersten 90 Minuten ist der Nutzen doppelt so hoch wie später. Daran ändern auch die Ergebnisse der ECASS-III-Studie nichts.

Auch wenn die ESO ab jetzt die Lyse bis viereinhalb Stunden nach Symptombeginn offiziell empfiehlt, weist sie doch auch ausdrücklich darauf hin, dass die Therapie mit Alteplase (Actilyse®) jenseits der dritten Stunde derzeit noch off label erfolgt.

Eine Zulassungserweiterung hat Boehringer Ingelheim aber schon beantragt. Die Deutsche Schlaganfallgesellschaft wird in Kürze einen Musterbrief zur Verfügung stellen, mit dem in der Übergangsphase die lokale Ethikkommission informiert werden kann. Außerdem werden Infoblätter für Patienten erstellt. Klar sei, dass der Off-label-Einsatz in diesem Fall nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten sei, so Hacke.

Die ECASS-III-Studie

Die Herausgeber der Fachzeitschrift "The Lancet" haben die europäische Schlaganfall-Studie ECASS-III zur wichtigsten medizinischen Veröffentlichung 2008 gewählt (wir berichteten). Die Studie ist vor drei Monaten im "New England Journal of Medicine erschienen" (359, 2008, 1317).

An der ECASS-III-Studie nahmen 821 Patienten mit ischämischem Schlaganfall teil, bei denen der Beginn der Lysetherapie zwischen drei und viereinhalb Stunden nach Symptombeginn erfolgte. Behandelt wurde mit Alteplase (Actilyse®) oder Placebo.

Die mittlere Schlaganfallschwere lag bei elf Punkten auf der Schlaganfallskala NIHSS. 52 Prozent der mit Alteplase behandelten Patienten sprachen gut auf die Therapie an; sie hatten drei Monate später keine oder nur geringe funktionelle Einschränkungen. In der Placebogruppe war dieser Anteil mit 45 Prozent deutlich geringer.

Symptomatische intrakranielle Blutungen traten mit der Lyse-Therapie zwar signifikant häufiger auf als mit Placebo (2,4 versus 0,2 Prozent). Die Sterberate unterschied sich mit 7,7 Prozent (Alteplase) und 8,4 Prozent (Placebo) aber nicht signifikant. (gvg)

Lesen Sie dazu auch: Jetzt offiziell: Mehr Zeit für Lyse

Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema

Ergebnisse der Studien ASSET-IT und MOST

Was nützt die Lyse-Augmentation bei Schlaganfall?

Das könnte Sie auch interessieren
PAP senkt Mortalität signifikant

© ResMed

Lancet: Neue Meta-Analyse

PAP senkt Mortalität signifikant

Anzeige | ResMed Germany Inc.
Wie UKPS den Weg zurück in die Therapie öffnet

© ResMed

PAP scheitert oft

Wie UKPS den Weg zurück in die Therapie öffnet

Anzeige | ResMed Germany Inc.
Schlafstörungen als Warnsignal

© shapecharge | iStock

Früherkennung Demenz

Schlafstörungen als Warnsignal

Anzeige | ResMed Germany Inc.
Grippeschutz in der Praxis – Jetzt reinhören!

© DG FotoStock / shutterstock

Update

Neue Podcast-Folgen

Grippeschutz in der Praxis – Jetzt reinhören!

Anzeige | Viatris-Gruppe Deutschland
Herz mit aufgemalter Spritze neben Arm

© Ratana21 / shutterstock

Studie im Fokus

Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Prävention durch Influenzaimpfung?

Anzeige | Viatris-Gruppe Deutschland
Junge Frau spricht mit einer Freundin im Bus

© skynesher | E+ | Geytty Images

Update

Impflücken bei Chronikern

Chronisch krank? Grippeimpfung kann Leben retten

Anzeige | Viatris-Gruppe Deutschland
Kommentare
Sonderberichte zum Thema
7-Jahres-Daten belegen günstiges Nutzen-Risiko-Profil von Ofatumumab

© Vink Fan / stock.adobe.com

Aktive schubförmige Multiple Sklerose

7-Jahres-Daten belegen günstiges Nutzen-Risiko-Profil von Ofatumumab

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Novartis Pharma GmbH, Nürnberg
Porträts: [M] Feldkamp; Luster | Hirn: grandeduc / stock.adobe.com

© Portraits: [M] Feldkamp; Luster | Hirn: grandeduc / stock.adobe.com

„ÄrzteTag extra“-Podcast

Die Schilddrüse tickt in jedem Lebensalter anders

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Sanofi-Aventis Deutschland GmbH, Frankfurt am Main
Abb. 1: Studie DECLARE-TIMI 58: primärer Endpunkt „kardiovaskulärer Tod oder Hospitalisierung wegen Herzinsuffizienz“ in der Gesamtkohorte

© Springer Medizin Verlag GmbH, modifiziert nach [4]

Diabetes mellitus Typ 2

Diabetes mellitus Typ 2 Präventiv statt reaktiv: Bei Typ-2-Diabetes mit Risikokonstellation Folgeerkrankungen verhindern

Sonderbericht | Beauftragt und finanziert durch: AstraZeneca GmbH, Hamburg
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Jetzt neu jeden Montag: Der Newsletter „Allgemeinmedizin“ mit praxisnahen Berichten, Tipps und relevanten Neuigkeiten aus dem Spektrum der internistischen und hausärztlichen Medizin.

Top-Thema: Erhalten Sie besonders wichtige und praxisrelevante Beiträge und News direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Früherkennung

PSA-basiertes Prostatakrebs-Screening: Langzeitdaten belegen Nutzen

Red Flags

Rückenschmerz: Wer muss sofort ins MRT?

Lesetipps
Vier mittelalte Frauen laufen gemeinsam über eine Wiese und lachen.

© Monkey Business / stock.adobe.com

Wechseljahre

5 Mythen rund um die Perimenopause: Eine Gynäkologin klärt auf

Makro-Nahaufnahme eines Auges mit okulärer Rosazea.

© Audrius Merfeldas / stock.adobe.com

Schwere Komplikationen möglich

Augen-Rosazea: Erst sind’s die Lider, später auch die Hornhaut