Hintergrund

Intersexualität: Ethikrat nimmt Ärzte in die Pflicht

Ein Leben zwischen Mann und Frau: Intersexuelle Menschen haben kein eindeutiges Geschlecht. Sie sehen sich oft diskriminiert, schlecht beraten und falsch behandelt. Das soll ein Ende haben, so der Deutsche Ethikrat - und gibt Empfehlungen für Ärzte und die Politik.

Von Nicola Siegmund-Schultze Veröffentlicht:
Intersexuelle Menschen führen ein Leben zwischen den Geschlechtern.

Intersexuelle Menschen führen ein Leben zwischen den Geschlechtern.

© imagebroker / imago

"Das Kind ist ein Mädchen und wird es bleiben, die ganze Erziehung hat sich danach zu richten." So wird ein Arzt aus dem Jahr 1965 zitiert, der ein chromosomal männliches Kind kastriert hatte. Es war mit einem nicht eindeutigen Genitale geboren worden.

Solche Berichte von aus heutiger Sicht fragwürdigen Behandlungen, aber auch von seelischen Folgen gesellschaftlicher Ausgrenzung stellt der Deutsche Ethikrat seiner Stellungnahme zur Intersexualität voran.

Denn die Gesellschaft ist zweigeschlechtlich geprägt. Wenn sich das Geschlecht nicht eindeutig feststellen lässt, macht die Diagnose und ihre Bedeutung für Erziehung und psychosoziale Entwicklung des Kindes viele Eltern hilflos.

 Ob im Namens- oder Personenstandsrecht, bei Regelungen zu Ehe oder Lebenspartnerschaften: Intersexuelle Menschen oder ihre Angehörigen sehen sich oft zu Entscheidungen gedrängt.

Bundesregierung gab Auftrag

Der Ethikrat nimmt jetzt zu solchen existenziellen Fragen Stellung: Wie verhalten sich korrigierende oder geschlechtsangleichende Eingriffe im Kindesalter mit ihren lebenslangen Folgen zum Recht auf Selbstbestimmung und körperliche und seelische Unversehrtheit? Welche medizinethischen Kriterien sind an Beratung und Behandlung anzulegen? Welche Versorgungsstrukturen und rechtlichen Voraussetzungen sind notwendig, um das Ziel einer Gleichstellung zu erreichen?

Das Gremium folgt einem Auftrag der Bundesregierung. Die Regierung war von einem UN-Ausschuss aufgefordert worden, den Dialog mit von Intersexualität Betroffenen zu suchen und wirksame Maßnahmen zum Schutz ihrer Menschenrechte zu ergreifen.

Vorschläge zur Lösung der Probleme legt nun der Ethikrat vor. Die Basis dafür: Befragungen von Betroffenen, Wissenschaftlern und Juristen, öffentliche Veranstaltungen, die Auswertung von Studien.

Einer von 10.000 Menschen betroffen

Intersexualität (DSD)

Intersexualität oder Störungen der sexuellen Entwicklung (DSD, disorders of sex development) sind angeborene Abweichungen der geschlechtlichen Determination und Differenzierung.

Während bei Transsexualität eine körperlich unauffällige Person das Gefühl hat, im falschen Körper zu leben, geben viele von Intersexualität betroffene Menschen an, ihre Geschlechtsidentität liege irgendwo zwischen männlich und weiblich.

Auch das androgenitale Syndrom (AGS) wird vielfach zu den DSD gezählt. Der Karyotyp (46, XX) ist weiblich; durch eine enzymatische Unterfunktion werden vermehrt männliche Hormone gebildet. Folge ist eine Virilisierung des äußeren Genitale.

Weitere DSD durch Störungen der Androgenwirkung oder -bildung sind 5-alpha-Reduktase-Mangel und Androgenresistenz. Bei dieser ist der Karyotyp männlich (46, XY).

Auch Gonadendysgenesien gehören zu DSD. Sie können durch Genmutationen, Deletionen oder numerische Aberration der Geschlechtschromosomen entstehen. So sind bei der kompletten Gonadendysgenesie ein funktionsfähiger Eierstock und ein funktionsfähiger Hoden vorhanden. Es gibt gemischte Formen mit asymmetrischen Genitalbefunden.

Nach einer deutschen epidemiologischen Untersuchung von 2006 gibt es leichte Störungen der Geschlechtsentwicklung bei etwa einem von 2000 Menschen, gravierendere Störungen bei etwa einem von 10.000. Ob es sich bei Intersexualität um ein drittes Geschlecht handelt oder eine Zuordnung nicht erfolgen kann, solle offenbleiben, so der Ethikrat.

In vielen Fällen werden DSD (disorders of sex development) schon kurz nach der Geburt aufgrund eines untypischen äußeren Genitales oder der Diskrepanz zwischen dem pränatal untersuchten Chromosomensatz und dem Phänotyp festgestellt. Gelegentlich erfolgt die Diagnose später als Nebenbefund bei Operationen.

Bis auf Ausnahmen wie der Substitution mit Steroiden bei Hyperplasie der Nebennierenrinde (androgenitales Syndrom, AGS) gibt es wegen der Seltenheit von Intersexualität kaum medizinische Standards.

Die Auswertung von 199 aktuell befragten Betroffenen ergab: 73 Prozent mit AGS haben eine Hormonbehandlung erhalten und 57 Prozent eine operative Therapie. Bei den anderen DSD-Diagnosen gaben 84 Prozent eine hormonelle und 93 Prozent eine chirurgische Behandlung an.

In der Hamburger Intersex-Studie (2007/2008) wird von einem teilweise inadäquaten Umgang mit Patienten durch Ärzte berichtet wie medizinische Fotografien und Untersuchungen der Genitalien vor größeren Gruppen.

Im Onlineportal des Ethikrates gaben zwei Drittel der Betroffenen an, an der Entscheidung zu einer Operation beteiligt gewesen zu sein, bei den Hormontherapien fühlte sich circa ein Drittel gut aufgeklärt.

Die Empfehlungen des Ethikrats

Zu medizinischen Behandlungen empfiehlt daher der Ethikrat: Diagnostik, Beratung und Behandlung sollten nur in qualifizierten, interdisziplinär besetzten Kompetenzzentren erfolgen, die mit niedergelassenen Ärzten vernetzt sind. In Beratungen sollten Betroffene einbezogen werden.

Intersexualität sollte intensiver als bisher Eingang in die Fort- und Weiterbildung von Ärzten, Hebammen und Psychotherapeuten finden. Kinder sollten entsprechend ihrer Entwicklung in Therapieentscheidungen eingebunden, irreversible Maßnahmen nur dann bei Nicht-Entscheidungsfähigen vorgenommen werden, wenn es das Kindeswohl unabweisbar erfordere.

Straftaten an einem Kind, durch die die künftige Fortpflanzungs- oder sexuelle Empfindungsfähigkeit irreversibel beeinträchtigt wurden, sollen nicht vor Vollendung des 18. Lebensjahres der Betroffenen verjähren, zivilrechtliche Ansprüche nicht vor dem 21. Lebensjahr.

Aus einem Fonds sollen DSD-Betroffene entschädigt werden, die unter aus heutiger Sicht unangemessener medizinische Behandlung und gesellschaftlicher Diskriminierung gelitten haben.

Für das Personenstandsrecht schlägt der Ethikrat vor, dass Menschen, die sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen möchten, "andere" wählen können. Ein Eintrag soll auch unterbleiben dürfen, der Gesetzgeber solle ein Höchstalter festlegen, bis zu dem eine Entscheidung fallen muss.

Auch sollten Menschen mit dem Geschlechtseintrag "andere" eingetragene Lebenspartnerschaften eingehen dürfen.

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