Porträt
Zwischen Skabies und Vertrauen: Dr. Biella findet seinen Platz in der Obdachlosenhilfe
Dr. Christoph Biella hat spezielle Patienten: Er behandelt Menschen, die kein Obdach oder keine Krankenversicherung haben. In der Jenny De la Torre-Stiftung in Berlin arbeitet er als angestellter Arzt und hat seine Berufung gefunden.
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Dr. Christoph Biella ist angestellter Arzt im Gesundheitszentrum für Obdachlose in Berlin, das von der Jenny De La Torre-Stiftung getragen wird.
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Berlin. Später einmal dort zu helfen, wo es am meisten gebraucht wird: Diesen Wunsch hegt wohl jede Medizinstudentin, jeder Medizinstudent zu Beginn der Ausbildung. Auch Christoph Biella machte sich früh Gedanken darüber, wo sein Platz als Arzt sein könnte. Heute hat er ihn gefunden: in der Obdachlosenversorgung.
Während des Studiums hörte Biella einen Vortrag der Ärztin Jenny De la Torre, die ab 2006 in Berlin ein Gesundheitszentrum für Obachlose aufbaute. „Ich war total fasziniert“, erzählt Biella.
Nach dem Examen zog es ihn jedoch erst einmal nach Schweden. Dort absolvierte Biella die Facharztausbildung zum Allgemeinarzt. Nach acht Jahren kehrten er und seine Familie nach Berlin zurück.
Berufung gefunden
Dort entdeckte Biellas Frau eine Anzeige, über die die Jenny de la Torre-Stiftung einen angestellten Arzt suchte. Nach mehreren Hospitationen entschied sich Dr. Christoph Biella, ab 2024 die ärztliche Versorgung der Obdach- und Wohnungslosen im Gesundheitszentrum zu übernehmen. Nach bald zwei Jahren „kann ich sagen, dass ich genau meinen Platz gefunden habe. Es ist wirklich eine Berufung die Arbeit mit den Patienten“, schwärmt Biella.
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Irgendwann eine eigene Praxis zu gründen, in die Klinik zurückzukehren, das kann sich der Arzt momentan nicht vorstellen. „Am Anfang habe ich schon gesagt, dass ich erst mal gucken möchte, wie das wird“, erzählt Biella. Jetzt ist er sicher: „Das ist genau das, was ich machen möchte.“
Praxis, Küche, Kleiderkammer, Beratung: Viel Hilfe unter einem Dach
Umfangreiches Angebot
Rund 5.000 hilfsbedürftige Menschen suchen pro Jahr das Gesundheitszentrum der De la Torre-Stiftung auf. Dort werden psychologische, Sucht-, Sozial- und Rechtsberatung angeboten, es gibt eine Kleiderkammer, Duschen und eine Küche, die Frühstück und Mittagessen anbieten.
Die Praxis ist jeden Tag ab 8 Uhr morgens bis in der Regel nachmittags um 15 Uhr offen. Allgemeinarzt Dr. Christoph Biella wird von drei Krankenpflegerinnen und -pfleger und einer Zahnarzthelferin unterstützt. Zusätzlich bieten ein Internist, eine Augenärztin, ein Hautarzt und vier Zahnärztinnen sowie -ärzte Sprechstunden auf ehrenamtlicher Basis an.
Gut 2.500 Obdach-, Wohnungslose sowie Menschen ohne Krankenversicherung werden jährlich in der Praxis behandelt. Am meisten los ist im Winter. Um bis zu 20 Patienten pro Tag kümmern sich dann Biella und sein Team. Das ist in regulären Hausarztpraxis keine große Nummer.
Viel Zeit ist für die Menschen nötig
Doch im Gesundheitszentrum bringt es die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bisweilen an ihre Kapazitätsgrenzen. „Durch die Sprachbarrieren und die parasitären Erkrankungen braucht man viel Zeit. Aber wir haben den Luxus, dass wir uns die Zeit nehmen können“, sagt Christoph Biella.
Läuse und Skabies sind in der Praxis Alltag, ebenso Wunden wie Ulcera crura. In der Erkältungszeit leiden die Menschen an Infekten. Behandeln muss Biella natürlich auch Volkskrankheiten wie Diabetes, Hypertonie oder Hyperlipidämie. Nicht selten kommen Patienten auch mit Blutvergiftungen.
Oft gelingt es, Vertrauen aufzubauen
„Anfangs hatte ich die Befürchtung, dass es vielleicht zu einseitig wird, dass ich immer nur Wunden versorgen muss“, sagt Biella. Doch das Praxisteam ist gewachsen, Biella hat inzwischen auch Zeit für komplexere Fragestellungen. „Ich habe das Gefühl, dass ich mich hier auch fachlich weiterentwickeln kann.“
Viele der Patienten leiden unter Sucht- und psychischen Problemen. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Compliance, doch das Ausmaß ist bei weitem nicht so groß wie Dr. Christoph Biella anfangs befürchtet hatte. „Dadurch, dass ich jeden Tag in der Praxis bin, können wir ein Vertrauensverhältnis aufbauen.“
Das ist in den Augen Biellas das „wichtigste Tool“, um die Patienten zu motivieren, regelmäßig in die Praxis zu kommen und etwa die Wunden versorgen zu lassen. Ebenso gehört eine klare Ansprache dazu. „Man muss den Leuten auch sagen, dass sie das Bein verlieren können, wenn sie nicht wiederkommen. Da muss man schon mal direkt sein“, so Christoph Biella.
Gespür, wie die Patienten ticken
„Mittlerweile habe ich ein Gespür dafür, welche Patienten wiederkommen und welche nicht.“ Bei letzteren „versuchen wir, so viel wie möglich zu machen“. Antibiotikum gibt Biella den unsicheren Kandidaten grundsätzlich nicht mit, „wir müssen mit unseren Spendenmitteln haushalten“.
Die Wundversorgung wird ebenfalls angepasst. Was nützt ein toller steriler Wundverband, wenn der Patient nicht wiederkommt ¬ - und sich unter dem luftdichten Verband ein „schönes Eitermilieu“ bildet? „Man muss individuell abwägen, was für die Patienten die richtige Wundversorgung ist. Wir arbeiten deshalb auch viel mit Wunddistanzgittern und mit Jod. Da würden viele sagen: ganz schön old school.“
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Ziel des Gesundheitszentrums mit seinen umfassenden Angeboten ist es, die Menschen wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Wenn das gelingt, ist die Freude unter den Mitarbeitern der Jenny de la Torre-Stiftung groß.
Bemühungen können auch scheitern
Gleich zu Beginn seiner Tätigkeit behandelte Biella einen Patienten, der bei Minusgraden alkoholisiert im Freien eingeschlafen war. Mit Hypothermie, Nekrosen, Nierenversagen, Herzproblemen war er erst in die Klinik, dann ins Gesundheitszentrum zur über zweimonatigen Anschlussbehandlung gekommen.
„Der Patient hat sich dann um einen langfristigen Entzug gekümmert, Bürgergeld beantragt und ist wieder in die Krankenversicherung gekommen. Das ist eine richtige Erfolgsgeschichte“, erinnert sich Biella.
Zum Kümmern gehört manchmal allerdings auch, die Zusammenarbeit mit einem Patienten zu beenden. „Das hört sich vielleicht hart an, aber das ist für uns auch wichtig: dass wir nicht nur helfen, sondern auch sagen: Du bist für dein Leben verantwortlich – kümmere dich!“
Wie begegnet Dr. Christoph Biella selbst Obdachlosen auf der Straße? Geld spendet er fast nicht mehr, eher gibt er den Menschen Lebensmittel. Und er lädt sie in das Gesundheitszentrum ein, um sich dort Hilfe zu holen.
Was können Praxen tun?
Obdachlose als Patienten in der Praxis aufzunehmen ist schwierig. Meistens nicht „wartezimmerfähig“, nennt es Dr. Christoph Biella mit Blick auf die Konstitution der Menschen. Dazu kommt, dass Duschen fehlen, die für eine Wundversorgung nötig sind. Ganz abgesehen von der Vergütung der ärztlichen Leistung, die ohne Krankenversicherung pro bono erfolgen müsste. Privatrezepte sind sinnlos.
Wer sich dennoch engagieren will, kann sich ehrenamtlich bei Einrichtungen und Organisationen engagieren, die Obdach-, Wohnungslose und Menschen ohne Krankenversicherung versorgen und bisweilen auch aufsuchende Hilfe anbieten. Ärztinnen und Ärzte können in deren Räumen Behandlungen anbieten oder etwa in Arztmobilen mitfahren. Weiter ist es möglich, sich als Kooperationspraxis für einzelne Fälle zur Verfügung zu stellen. Spenden sind an die Trägerorganisationen sind immer willkommen.
In Berlin beispielsweise gibt es für Niedergelassene auch die Möglichkeit, mit der Clearingstelle für nicht krankenversicherte Menschen zu kooperieren. Die Behandlungskosten werden nach einer Prüfung übernommen.