Umstrittene Medizin
Gen- und Zelltherapien sollen Gesundheitswirtschaft boostern
Für Menschen mit seltenen Erkrankungen gelten Gen- und Zelltherapien als Hoffnung. Für die Gesellschaft sind diese Therapien eine Herausforderung, für die Gesundheitswirtschaft eine Chance.
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In einem Reinraum am Fraunhofer Institut für Zelltherapie und Immunologie arbeitet ein pharmazeutisch-technischer Assistent an einer personalisierten Krebstherapie.
© picture alliance / Waltraud Grubitzsch/dpa-Zentralbild/ZB | Waltraud Grubitzsch
Berlin. Deutschland will künftig eine stärkere Rolle bei der Gen-und Zelltherapie spielen. Das Land Berlin, die Charité und Bayer haben sich Ende April bereits auf die Gründung eines Zentrums für Translation im Bereich der Gen- und Zelltherapie geeinigt.
Der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) gilt dies als „hochinnovatives medizinisches Projekt“. Das soll nicht nur dem medizinischen Fortschritt, sondern auch der Gesundheitswirtschaft Schub verleihen.
Aktuell spielt die Musik in diesem Bereich vor allem in den USA. Das wurde bei einer Veranstaltung deutlich, zu der der „Tagesspiegel“ aus Berlin am Mittwoch eingeladen hatte. Es gebe im Zulassungsgeschehen einen Wandel hin zu Gentherapien, berichtete Dr. Martina Schüßler-Lenz vom Paul-Ehrlich-Institut.
Diese Therapien würden vorwiegend in den USA entwickelt. Dort vollziehe sich die Translation, dort fänden auch die klinischen Studien statt, die wiederum erst spät nach Europa kämen, sagte Schüßler-Lenz, die auch im Komitee für fortgeschrittene Therapien der EMA sitzt.
Durch die Abstimmung im europäischen Kontext kämen Therapien zwar überall in Europa gleichzeitig an. Wann sie dann zum Patienten kämen, sei allerdings eine andere Frage.
Bürokratie bremst Gesundheitswirtschaft aus
Was die wissenschaftlichen Publikationen zum Thema angehe, stehe Deutschland auf Platz drei, sagte der Sprecher für Forschung der Unionsfraktion im Bundestag, Thomas Jarzombek. Aber wenn es um Patente und klinische Studien gehe, falle Deutschland wegen seiner Bürokratie dann doch ganz erheblich zurück.
„Wir haben eine Komplexität im Staat erreicht, die uns komplett ausbremst“, sagte der Unionspolitiker. Die Regulierung in Deutschland sei durch die Länderzuständigkeit, komplizierte Antragsverfahren und lange Fristen überfrachtet.
Gleichwohl hält Jarzombek einen Kulturwandel für möglich. Im Zukunftsfonds aus der vergangenen Legislaturperiode seien drei Milliarden noch übrig, die er im Biotech-Bereich gut aufgehoben sehe.
Forscherwunsch: Entkrampftes Verhältnis zum Fortschritt
Für gesellschaftliche Akzeptanz für die Stammzellforschung und die Molekulargenetik warb der Vorsitzende des Berlin Instituts for Health (BIH) an der Charité Professor Christoph Baum. „Wir müssen unser Verhältnis dazu entkrampfen“, sagte Baum.
Es handele sich um technologische Realitäten, die im Hier und Jetzt angekommen seien und eine Rolle für die Weiterentwicklung der Medizin spielten. „Ohne diese Technologien in die Medizin zu integrieren, werden wir unserem gesamtgesellschaftlichen Auftrag nicht gerecht, Patienten mit schweren Erkrankungen neue Perspektiven zu geben“, sagte Baum.
Ein wichtiger Punkt der Akzeptanz sei der Kostenfaktor. In die Preisfindung einfließen müsste der Aufwand sowie eine gerechtfertigte Marge und der Innovationsdruck, um die Kosten weiter zu senken – dies bei gleichzeitig höherer Sicherheit der Therapie.
Dr. Claus Runge von der Bayer AG verwies darauf, dass Großbritannien und China die fortgeschrittenen medizinischen Therapien (ATMP) zum Kern von Industriepolitik gemacht hätten, während in Deutschland neuen Technologien oft misstraut werde. Das neue Berliner Zentrum solle daher auch Ort der gesellschaftlichen Debatte über die Vertrauenswürdigkeit neuer Technologien werden.